33 - Albträume

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„Lucy!" Ich renne und renne - werde immer schneller. Meine Lungen brennen und meine Beine drohen jeden Moment unter mir nachzugeben. Aber ich darf nicht anhalten! Lucia ist nur wenige Meter von mir entfernt. Ihre blonden Haare wehen sanft im Wind und stellen einen Kontrast zu dem finsteren Wald um uns herum dar. „Lucy!" Jemand legt seine Hände auf meine Schultern und möchte mich davon abhalten, meiner Zwillingsschwester näherzukommen. Ich schlage um mich und versuche, mich zu befreien, doch ich schaffe es nicht. Tränen kullern über meine Wangen und verschleiern meine Sicht. Lucia wird immer kleiner, bis sie letztendlich als winziger Punkt in der Dunkelheit verschwindet. Ich habe sie verloren - schon wieder.

„Lucy!" Ich schrecke hoch und schnappe nach Luft. Glasperlen rinnen über meine Haut und tropfen von meinem Kinn hinab. „Dad", schluchze ich und kralle mich hilfesuchend an seinem Arm fest. „Es war so real." Mein Vater schaut mitleidig auf mich hinab und streichelt durch mein Haar. Angst und Besorgnis stehen ihm ins Gesicht geschrieben.

„Es war aber nur ein Traum, Lucy. Alles ist gut. Du bist in Sicherheit."

„Aber Lucia ist es nicht", japse ich und versuche meinen rasenden Herzschlag zu kontrollieren. Ich zittere am ganzen Körper und kann immer noch nicht glauben, dass es nur ein Traum war. Ich war Lucia so verdammt nahe.

Dieser Gedanke zertrümmert mein Herz und schubst mich förmlich einer Panikattacke entgegen. Im letzten Moment lenkt mich mein Vater von dem Schmerz ab. „Deine Schwester ist an einem Ort, an dem es ihr besser geht", murmelt er mit Tränen in den Augen und drückt meine Hand. „Komm mit."

Ich krabbele unter meiner Bettdecke hervor und folge Dad. Wir schleichen nach unten und bleiben im Garten stehen. „Siehst du die vielen Sterne am Himmelszelt?" Ich nicke und beobachte fasziniert die kleinen Lichter. „Und siehst du auch den Stern, der von allen am hellsten strahlt?" Dad nimmt meine Hand und richtet sie auf einen funkelnden Stern. Er ist tatsächlich der Hellste von allen.

„Ja", antworte ich schließlich, ohne meinen Blick von dem Himmelskörper zu nehmen. „Lucia sitzt genau auf diesem Stern und schaut täglich auf uns hinab. Sie ist unser kleiner Schutzengel", lächelt mein Vater mit zittriger Stimme und nimmt mich in den Arm. Tränen rinnen über sein Gesicht und durchnässen sein Schlafshirt.

Ich wusste nicht, dass ihn der Tod meiner Zwillingsschwester auch so sehr belastet. Ich dachte immer, dass er damit klarkommt, aber eigentlich kommt er das nicht. Er hat nur seine Gefühle besser im Griff als ich.

„Ich vermisse sie", hauche ich und winke den Sternen zu. Vielleicht schaut Lucia jetzt gerade auf uns hinab und winkt sogar zurück. „Ich weiß, mein Schatz. Das tun wir alle", tröstet mich Papa und malt Kreise auf meinen Arm. „Aber irgendwann werden wir sie wiedersehen." Die ersten Regentropfen fallen vom Himmel. „Ich glaube, Lucia weint gerade", lächele ich unter Tränen und drücke mich noch enger an meinen Vater. „Natürlich nur vor Freude", fügt er hinzu, ehe wir wieder ins Haus gehen.

Das Gespräch mit Dad hat mir geholfen und so kommt es, dass ich die restliche Nacht traumlos verbringe.

Der Sonntag gestaltet sich als ziemlich ungemütlicher und regnerischer Tag. Dementsprechend bin ich auch überrascht, als es gegen Mittag an der Tür klingelt. „Ich gehe schon!", rufe ich und rücke meine Brille auf der Nasenspitze zurecht. Ich sollte mir wirklich mal Kontaktlinsen für zu Hause zulegen.

Ich öffne die Haustür und setze ein freundliches Lächeln auf, das jedoch binnen weniger Sekunden erstirbt. Claire taucht immer dann auf, wenn ich es am wenigsten erwarte. „Hey Lucy", begrüßt sie mich und drückt sich an mir ins Haus vorbei. Ich stehe sprachlos neben ihr und sehe dabei zu, wie sie Jacke und Schuhe auszieht.

Was hat sie hier zu suchen?

„Am besten gehen wir in dein Zimmer, oder?" Als wäre Claire schon tausendmal hier gewesen, steigt sie die Treppenstufen empor und steuert mein Zimmer an. „Kommst du?", winkt sie mich zu sich und verschwindet dann in meinem Zimmer. Ich eile ihr verwirrt nach und stelle mich mit verschränkten Armen vor sie.

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