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Der Ball. Der große Ball. Der große, furchteinflößende Ball.

Das erste gesellschaftliche Event, bei dem sich Bailian und Lucinda als Lord und Lady Bailian White zeigen würden und das frisch verliebte Paar geben müssten, das gerade aus den Flitterwochen kam und dabei sprachen sie nicht einmal mehr ein Wort miteinander.

Seit Lucinda Bailian ihres Schlafzimmers verwiesen hatte, gingen sie sich gegenseitig den ganzen Tag schon aus dem Weg. Und nun saß sie hier vor ihrem Frisiertisch und ließ sich von Mia die Haare zu einer kunstvollen Frisur hochstecken, da sie in nicht einmal einer Stunde zu diesem unsäglichen Ball aufbrechen mussten, bei dem Lucinda den ganzen Abend an Bailians Seite würde lächeln müssen.

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, der Mia zusammenzucken ließ.

"Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Mylady? Habe ich Sie mit den Haarnadeln gestochen?"

"Aber nein, Mia", beruhigte Lucinda sie. "Es ist alles in bester Ordnung, ich bin nur meinen Gedanken nachgehangen."

Ein paar Minuten später hatte Mia alle losen Haarsträhnen festgesteckt und Lucindas Haare mit ein paar einzelnen Perlen geschmückt. "Fertig, Mylady. Wie gefällt es Ihnen?"

Lucinda drehte ihren Kopf ein wenig in beide Seiten, um sich genauer im Spiegel betrachten zu können.

"Das ist ganz zauberhaft, Mia, vielen Dank." Wie immer, wenn Lucinda ihr ein Kompliment machte, errötete Mia ein klein wenig vor Freude. Lucinda war ihr ewig dankbar, dass sie sich immer solche Mühe gab, sie reizend und schön wirken zu lassen, sicherlich in der Annahme, dass sie ihrem Ehemann gerne gefallen wollte.

Ihrem Ehemann, der für sie wie ein Fremder war.

Obwohl Lucinda und Bailian fast einen Monat lang verheiratet waren, hatte sie manchmal das Gefühl, dass sie jetzt genauso wenig über ihn wusste, wie damals als sie ihn im Krankenbett gepflegt hatte. Lediglich seinen Namen wusste sie jetzt.

Dabei sehnte sie sich so nach seiner Nähe, seiner Vertrautheit, seinem Wohlwollen. Doch zwischen ihnen standen zu viele Konflikte, Missverständnisse und anscheinend auch Geheimnisse. Ihr tat das Herz weh vor Sorge, wenn sie an den Bluterguss an Bailians Seite dachte. Was war nur geschehen? Und wieso hielt er sie außen vor? Wieso durfte sie sich nicht um ihn sorgen?

Lucinda stand auf und ließ Mia ihr dabei helfen, das prunkvolle Kleid für den Abend anzuziehen. Das Korsett schnürte ihr die Luft ab.

Genauso wie der Kuss gestern.

Jedes Mal, wenn sie an Bailians Lippen auf ihren dachte, raste ihr Herz und eine Hitzewelle flutete durch jede Faser ihres Körpers. Sie wusste jetzt, wie sehr sie sich gewünscht hatte, von Bailian geküsst zu werden. Dass ihr Körper ihr keinen Streich gespielt hatte, jedes Mal, wenn er sie, wenn auch nur flüchtig, berührt hatte. Sie reagierte auf Bailians Nähe.

Ging es ihm genauso? Oder hatte er wieder einmal ganz andere Absichten als sie?

Wieso hatte er sie eigentlich geküsst? Weil er es wollte oder weil er seine Ruhe haben wollte und sie so zum Schweigen hatte bringen können?

Ihr Blick fiel auf ihren Frisiertisch, wo gestern Abend noch die leere Weinflasche gestanden hatte. Sie wusste, dass manche Menschen durch zu viel Alkohol in ihrem Gedächtnis beeinträchtigt wurden. Sie konnte sich noch zu gut an den Vorabend erinnern. Anscheinend musste wesentlich mehr getrunken werden, um diesen Effekt zu erzielen. Fast wünschte Lucinda sich, dass sie sich nicht an den Streit mit Bailian erinnern konnte. Es tat zu weh, dass sie wieder einmal nicht miteinander sprachen. Es tat zu weh, dass ihr erster Kuss so ausgefallen war.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now