~10~

5.4K 619 117
                                    

Schon den ganzen Nachmittag über saß Lord McLocklyn hinter geschlossenen Türen seiner Bibliothek und redete mit Mr. Thornton. Bailian konnte unter keinen Umständen einen Sinn dahinter sehen.

"Tobias, ist dein Vater krank?", fragte er seinen Cousin, als er sich im Salon zu ihm gesellte.

"Vater? Nein, ich denke nicht."

"Was macht Mr. Thornton dann hier?"

Tobias sah von der Zeitung auf, in der er las und hob eine Augenbraue. "Wenn du das nicht erraten kannst, werter Cousin, dann bist du dümmer als es scheint."

Irritiert über diese Bemerkung verließ Bailian wieder den Salon und begab sich nach oben in das Gästezimmer, das er bezogen hatte. Hatte Mr. Thorntons Besuch etwas mit dem gemeinsamen Abendessen der beiden Familien am Abend zuvor zu tun? Zweifelten die Thorntons womöglich an der Echtheit seiner Entschuldigung? Wollten sie einen finanziellen Vorteil daraus ziehen?

Grübelnd klingelte er nach einem der Dienstmädchen und gab in Auftrag, ein heißes Bad für ihn einzulassen. Kurz darauf entschied er sich jedoch dagegen und befahl stattdessen, seinen Hengst satteln zu lassen.

Hatte er sich am Vorabend nicht gut genug benommen?

Hatte er in irgendeiner Weise den Namen McLocklyn in den Schmutz gezogen?

Er wusste, dass dies nicht der Fall war und er wusste auch, dass keiner die stichelnden Bemerkungen Ms. Lucinda Thornton gegenüber bemerkt hatte.

Ein neuer Gedanke tauchte auf. Hatte sie sich über ihn beschwert? Wollte sie ihm das Leben auf dem Land womöglich noch mehr vermiesen?

Naives, dummes Mädchen! Sie wusste nicht, auf was sie sich einließ! Sie mochte vielleicht hübsch sein, aber selten hatte eine Frau ihn so sehr genervt wie sie. Und es schien einfach kein Ende zu nehmen!

Bailian wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er Stimmen in der Halle vernahm und schnell begab er sich nach unten. Er schritt zügig die Treppe hinunter, erreichte das Ende jedoch in dem Moment, als der Hausdiener die Eingangstüre schloss.

Verdammt! Er hatte Mr. Thornton um drei Sekunden verpasst, stellte er frustriert fest. Er wusste zwar nicht, was er ihm gesagt hätte, aber er wusste auch, dass er unbedingt herausfinden musste, worum das Treffen ging.

"Bailian!"

Überrascht drehte Bailian sich um und erkannte die imposante Statur seines Onkels, die in der Tür zur Bibliothek zu sehen war.

"Wie kann ich behilflich sein, Onkel?", fragte er so höflich wie möglich und ging einen Schritt auf ihn zu.

"Das will ich dir sagen. Auf ein Wort, bitte!"

Leise seufzend ging er ihm nach, wusste nicht wirklich, was er zu erwarten hatte, hoffte jedoch zu erfahren, was Mr. Thorntons Besuch zu bedeuten hatte.

***

"Wie kann er nur so zu dir sprechen?", reagierte Marie empört, als Lucinda ihre Erzählung über den Vorabend beendet hatte.

"Er wurde eben als Lord erzogen, folglich ist er nun reich und verwöhnt und denkt, die ganze Welt liege ihm zu Füßen und dass er mit seinen Mitmenschen umspringen kann, wie es ihm beliebt." Lucinda zuckte gleichgültig mit den Achseln, als würde ihr die Erinnerung an den vergangenen Abend nichts ausmachen. Aber noch immer herrschte in ihr ein Aufruhr, wie sie ihn zuvor nicht gekannt hatte.

Bailian White und seine Ansichten hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt und ununterbrochen fragte sie sich, wie ein derart arroganter Schnösel mit seiner Erziehung solch liberale Ansichten haben konnte. Sofern alles tatsächlich der Wahrheit entsprach und nicht gespielt war, um seinem Onkel eins auszuwischen. Weshalb auch immer er das tun sollte.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now