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Etwa zwei Stunden später saßen sie in der Kutsche auf dem Weg zu Longwood Manor. Caroline und Kate kicherten unaufhörlich vor sich hin und versuchten ununterbrochen zu erraten, um wen es sich beim Ehrengast handelte und Lucinda fragte sich wieder einmal, wann die beiden wohl endlich erwachsen werden würden.

George hatte sich fein herausgeputzt und sie spürte ein klein wenig Stolz auf ihren Bruder, der im Umkreis wahrscheinlich beinahe jedes Mädchen hätte haben können, aber wartete, bis ihm ein Mädchen über den Weg lief, mit dem er sich vorstellen konnte, jeden Tag zu verbringen.

Ein wenig neidisch dachte sie daran, dass er es sich erlauben konnte, sowohl wählerisch als auch romantisch zu sein.

Als die Kutsche in der Einfahrt des riesigen Anwesens hielt, kam sogleich ein Diener und öffnete den Kutschenschlag, um den Damen beim Aussteigen behilflich zu sein. Lucinda staunte über die Größe des Anwesens. Bisher hatten sie als Familie noch nie eine Einladung zu einem privaten Ball der McLocklyns erhalten.

Gemeinsam mit anderen eben eintreffenden Gästen stiegen sie die Treppen hinauf und betraten den schon gut gefüllten Ballsaal der McLocklyns. Kronleuchter mit unzähligen Kerzen hingen von der Decke, tauchten den ganzen Saal in warmes Licht und verströmten Wärme. Bedienstete liefen mit Erfrischungen und kunstvoll angerichteten kleinen Schälchen mit Essen durch den Raum.

Beinahe ohne zu realisieren, was geschah, stand Lucinda auf einmal mit einem Glas Champagner in der Hand da. Selbst durch ihre Seidenhandschuhe hindurch konnte sie die Kälte der Flüssigkeit fühlen.

"Champagner... Und auch noch kalt!", seufzte Marie neben ihr und nahm einen Schluck. Lucinda tat es ihr gleich und spürte dieses behagliche Prickeln auf der Zunge. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie ihre Familie fast wie von selbst weiter in den Ballsaal gezogen wurde. Wahrscheinlich konnten sie es kaum erwarten herauszufinden, wer denn nun der mysteriöse Ehrengast war.

"Komm mit, Lucinda. Wir müssen uns bei den McLocklyns für die Einladung bedanken!"

Lucinda hatte noch nie etwas so Schönes gesehen, wie diesen geschmückten Ballsaal. Frische Blumenarrangements prangten in jeder Ecke und hunderte von Kerzen erleuchteten den gigantischen Raum. 

Marie zog ihre beste Freundin mit sich und sie sahen sich suchend nach den Gastgebern um und begrüßten auf ihrem Weg Nachbarn und Bekannte aus dem Dorf. Besonders die männlichen Bekannten schienen nur schwer verbergen zu können, dass sie von Lucindas Wesen angetan waren. Die ungewohnte Aufmerksamkeit war erheiternd, aber noch mehr beängstigend.

"Ich glaube, sie sind da hinten!", flüsterte Marie und zeigte in die Ecke des Saales, in der sich einige Gäste versammelt hatten. Jetzt bemerkte Lucinda auch Tobias McLocklyn, den sie seit ihrer Kindheit oberflächlich kannte, und spähte an ihm vorbei. Wer war denn nun seine heimliche Auserkorene?

Kurz schalt sie sich selber, da sie mit ihrer Neugier kaum besser war als ihre Familie.

Rechts neben ihm erkannte sie seine Mutter, Lady McLocklyn, die ein angestrengtes Lächeln zur Schau stellte. Und links neben Tobias...

Lucinda stockte der Atem. Ihr Herz setzte einen Hüpfer aus und sie blieb einige Meter entfernt stehen.

Wie in Trance betrachtete sie den Mann vor ihr, der höflich mit den Gästen plauderte. Sie starrte ihn an, starrte in sein markantes Gesicht, bemerkte sein kühles Lächeln, als müsse er sich zwingen hier zu sein.

"Lucinda? Was ist los?", flüsterte Marie aufgeregt neben ihr. Sie folgte Lucindas starrem Blick und schnappte nach Luft. "Wer ist das. Du meine Güte, ist das...?"

Mit einem Ruck drehte Lucinda sich um, wandte sich von dem Fremden ab und schloss für einen kurzen Moment ihre Augen, um sich zu sammeln.

Was machte er hier? Wer war er?

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now