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Lucinda setzte sich auf die nächstgelegene Bank und barg den Kopf in ihren Händen.

Wieso hatte sie ausgerechnet in diesem Moment über all die unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen nachdenken müssen? Wieso konnte sie nicht einfach den Moment genießen? Sie hatte Bailian verletzt, das hatte sie genau sehen können.

Das Knirschen von Kies kündigte Bailians Rückkehr an und sie hob den Kopf gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er sich neben sie setzte – mit größerem Abstand als sie gehofft hatte.

"Es tut mir leid, ich wollte dich nicht von mir stoßen", begann sie leise zu sprechen. "Meine Gedanken haben mich einfach überwältigt." Lucinda stockte, suchte nach Worten, bevor alles einfach aus ihr herausplatzte.

"Bailian, ich habe einen Mann geheiratet, von dem ich rein gar nichts weiß. Einen Mann, der bereits verlobt war und von dem ich nicht einmal weiß, weshalb er nun mit mir und nicht mit dieser anderen Frau verheiratet ist. Ich weiß nicht einmal, ob du es bereust, mich geheiratet zu haben und ob du lieber eine andere Frau an deiner Seite hättest." Lucinda verfluchte die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten und ihr ein Gefühl von Schwäche gaben. Sie wagte es kaum, in Bailians Richtung zu sehen.

"Ich habe eine Frau geheiratet, von der ich kaum etwas weiß", kam von ihm die Antwort, die Lucinda in keinster Weise weiterhalf.

"Bailian..." Sie seufzte und spürte eine immense Müdigkeit durch ihren Körper schwemmen. Ihr war der Versuch mittlerweile müßig, aus Bailians Verhalten schlau zu werden. Es schien wie eine unmögliche Aufgabe und das musste ihm doch bewusst sein.

"Lucinda, was willst du gerne wissen? Frag mich gerade heraus, anstatt dass ich raten muss, was du im Grunde willst." Auch Bailians Stimme klang irritiert und Lucinda wand sich bei dem Gedanken, ihren Ehemann zu nerven. Doch sie wollte Antworten.

"Wieso hast du die Verlobung gelöst?", fragte sie dann, nachdem sie ihren ganzen Mut gesammelt hatte.

Bailian antwortete erst nicht. Dann sah er sie an. "Wieso? Ich werde dir verraten wieso." Er stand auf und sah sie von oben herab mit einem harten Blick an.

"Ich konnte das Weib nicht ausstehen."

Er wandte sich zum Gehen, blieb bei der Tür jedoch noch einmal stehen. "Doktor Winter wird um sechzehn Uhr erwartet. Ich würde vorschlagen, dass du die Zeit, die dir durch die versäumte Tanzstunde nun bleibt, dazu nutzt, dich ein wenig auszuruhen." Ohne ein weiteres Wort ließ er sie auf der Terrasse sitzen, keine Spur von seiner Fürsorglichkeit und Rücksichtnahme, die sie bis vorhin noch gespürt hatte.

Die Übelkeit kehre zurück und Lucinda bemühte sich, die Fassung zu wahren. Mit Bailian zerstritten zu sein, war wahrhaftig das schrecklichste Gefühl, das sie kannte. Es war ihr nicht nur unangenehm, nein, es war unaushaltbar, dass Bailian sie möglicherweise nicht mochte.

Was, wenn er sie auch nicht ausstehen konnte? So wie seine erste Verlobte?

Würde er einen Weg finden, die Ehe zu lösen, die ja noch immer nicht vollzogen wurde?

Oder würden sie für den Rest ihres Ehelebens getrennte Leben führen?

Beide Optionen erschienen Lucinda alptraumartig. Eine diffuse Angst ließ sie leicht zusammenzucken und das Gefühl, dass ihr langsam etwas aus den Händen glitt, das ihr nicht einmal ganz gehörte.

Wie sollte sie ihre Gedanken sammeln, um sich nicht auch in der ersten Unterrichtsstunde mit Doktor Winter zu blamieren? Noch eine Dummheit konnte sie sich nicht erlauben, Bailians Geduld und Nachsicht mussten doch bald an eine Grenze stoßen?

Sie stand auf, atmete tief durch und begab sich nach innen. Sie wollte Mia bitten, ihr ein Bad einzulassen und eine Tasse wohltuenden Tee zu bringen und dann würde sie in einigen Medizinbüchern stöbern, um sich mental auf die Lehrstunde mit Dr. Winter vorzubereiten. Sie hoffte, dass er ein Arzt ähnlich wie ihr Vater war. Freundlich, beherrscht, gutmütig und gewillt, seine langjährige Erfahrung mit ihr zu teilen. Sie hoffte wirklich inständig, dass sie sich mit ihm wohlfühlen würde. Er hatte einen Eid geschworen, Menschen in Not zu helfen. Da würde er hoffentlich auch sie, eine junge, unerfahrene Frau sanft behandeln.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now