~12~

5.2K 623 69
                                    

Lucindas Rocksaum war mehrere Zentimeter mit Schlamm und Wasser vollgesogen, trotzdem marschierte sie energisch und schnell durch den Wald, trat über heruntergefallene Baumstücke, ging direkt durch die tiefsten Pfützen und strauchelte im gelben und braunen Herbstlaub, ohne sich darum zu kümmern.

Ihre Finger waren eiskalt, ihre Haare vom Nieselregen nass und ihre Beine schmerzten vor Anstrengung. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange sie schon durch die Wälder schritt oder wo sie überhaupt war. Und gerade eben war es ihr auch gleichgültig, ob sie sich verirrt hatte und nie wieder nach Hause finden würde!

Lord Bailian White heiraten...

Ein heftiger Schmerz zog durch ihre Brust, als sie an das Gespräch mit ihrem Vater dachte. Sie fühlte sich verraten. Obwohl sie wusste, dass ihr Vater keine gemeinen Absichten gehegt hatte. Trotzdem wurde sie die Beklommenheit in ihrem Innern nicht los.

Sie verstand die Argumentation ihres Vaters, sie konnte sie nur nicht glauben. Egal wie vorteilhaft es schien, wie sollte sie je Bailian White heiraten können?

Sie verabscheute den Mann! Wie sollte sie jemals ihr Leben mit ihm verbringen können?

Wie...?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.

Sie würde den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen müssen. An ihn gebunden für immer.

Der Gedanke schnürte ihr die Luft ab und abrupt blieb sie stehen. Sie fasste sich an die Brust, zog an ihrem Kleid, um Platz zu schaffen. Versuchte ruhig zu atmen, schien jedoch nur mehr und mehr nach Luft zu schnappen. Sie taumelte weiter und setzte sich auf einen dicken Baumzweig, der tief über der Erde hing. Sie lehnte sich nach vorne, versuchte, sich zu beruhigen. Schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Atmung.

Sie hatte sich nie viele Gedanken über das Heiraten gemacht. Sie hatte keine Vorstellung vom perfekten Ehegatten. Und sie hatte auch gewusst, dass Liebe und Vernunft selten zueinander passten.

Ihre Freundin Marie konnte sich glücklich schätzen. Sie würde aus Liebe heiraten und dazu noch das Leben erhalten, welches für sie vorgesehen war.

Und sie selber?

Ihr war klar, dass sie über ihrem Rang heiraten würde. Dass sich für ihre Schwestern dadurch ganz neue Möglichkeiten eröffneten, um selbst eine gute Partie zu machen. Ihre Eltern würden sich nicht um sie sorgen müssen. Bailian Whites Einkommen wäre möglicherweise sogar groß genug, dass sie sich um ihre Schwestern kümmern könnte, sollten diese selbst nie heiraten. Ihre Zukunft würde sicher sein.

Sicher.

Aber würde sie glücklich sein?

Ein klagender Laut entwich ihrer Kehle und sie bemühte sich, um die Tränen zurückzuhalten, die nur darum kämpften, ihre Wangen hinunter zu laufen. Doch dann dachte sie, dass sie im Wald eh alleine war und gab dem Drang nach. So saß sie einige Minuten lang da und versuchte sich schniefend ihre Zukunft vorzustellen.

Würde er ihr tatsächlich erlauben, sich mit der Medizin zu beschäftigen?

Oder waren seine Aussagen nur großspurige Reden gewesen?

Sie kannte diesen Mann nicht. Sie wusste nicht, was sie zu erwarten oder wie sie sich zu verhalten hatte.

Am ganzen Leib zitternd richtete Lucinda sich wieder auf. Falls sie sich nicht den Tod holen wollte, sollte sie sich lieber auf den Rückweg machen, so viel Geistesgegenwart besaß sie noch.

Mit wackeligen Beinen ging sie ein paar Schritte und versuchte sich zu orientieren. Sie war vom Pfad abgekommen, ließ den Blick schweifen und suchte nach Anhaltspunkten, als sie aus der Ferne das Galoppieren eines Pferdes vernahm. Sie horchte konzentriert und ging vorsichtig in die Richtung, aus der der Klang der Hufschläge zu kommen schien. Niemand würde mit so einer Geschwindigkeit durch einen verwachsenen Wald reiten, außer er befand sich auf dem Pfad.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now