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Etliche Stunden später kam die Kutsche ruckelnd zum Stehen. Lucinda taten alle Glieder weh. Die Kutsche war die letzten Stunden in einem ständigen Auf und Ab durch das Land gefahren und Lucinda hatte das Gefühl, nie wieder ohne Schmerzen sitzen zu können.

Mit Bailian hatte sie kaum ein Wort gewechselt. Zwischendurch hatte Lucinda sich über das Lunchpaket hergemacht, das die Köchin ihr zusammengestellt hatte und ihn gefragt, ob er auch etwas essen wolle. Bailians spöttische Antwort hatte lediglich darin bestanden, dass er ja immerhin bereits gefrühstückt hatte und nichts benötigte. Also waren sie wieder in Schweigen versunken und Lucinda hatte abwechselnd auf die Landschaft gestarrt und dann wieder einige Seiten in ihrem Buch gelesen.

Auf halbem Weg hatten sie bei einer Gaststätte Halt gemacht, um eine Kleinigkeit zu essen und die Pferde zu wechseln, aber auch dabei hatte das frisch getraute Ehepaar kaum miteinander geredet. Lucinda fühlte sich noch zu befangen, Bailian dagegen schien lediglich gleichgültig.

Je näher sie jedoch London gekommen waren, desto weniger hatte das Buch in ihren Händen Beachtung gefunden. Und nun... Nun stand sie schlussendlich vor ihrem neuen Zuhause und ließ sich von ihrem Mann aus der Kutsche helfen.

Während Bailian augenblicklich Befehle und Anweisungen erteilte, stand Lucinda nur völlig beeindruckt vor der Fassade des imposanten Gebäudes.

Dieser Prachtbau stellte alle Häuser, die sie jemals gesehen hatte, in den Schatten. Obwohl es ein Stadthaus war, besaß es eine eindrucksvolle Größe und es herrschte keinen Zweifel daran, dass hinter den Mauern angesehene und wichtige Menschen lebten. Auf den riesigen Stufen, die zum Eingang führten, standen die Bediensteten Spalier, um den Herrn des Hauses und seine Lady zu empfangen.

"Darf ich dir die Angestellten vorstellen?" Bailian wartete nicht einmal auf ihre Erwiderung, sondern zog sie mit sich.

Ein paar Minuten später schwirrte Lucinda bereits der Kopf von all den Namen. Da gab es den Butler Winston, den ersten Hausdiener Dean, den zweiten Hausdiener William, die Hausdame Ms. Davies, die Zimmermädchen Linda, Chloe, Belinda und Emily. Die Köchin und Küchenmädchen würde sie noch kennenlernen. Mia und Bailians Kammerdiener Charles waren bereits kurze Zeit vor ihnen eingetroffen und hatte ihre Ankunft angekündigt.

Lucinda sah ihren Ehemann noch ziemlich erstaunt darüber an, dass er die Namen von sämtlichen Angestellten kannte, als Winston einen Schritt nach vorne trat und sich knapp verbeugte.

"Mylady, die gesamte Dienerschaft ist erfreut, Sie kennenzulernen und wünscht Sie herzlich willkommen. Welche Wonne, endlich eine Herrin in diesem Hause begrüßen zu dürfen. Wir stehen zu Ihrer Verfügung."

Lucinda lächelte ihm freundlich zu, obwohl das Wort 'Herrin' ihr Herz höherschlagen ließ. "Vielen Dank, Winston." Sie warf den anderen Dienern noch einen Blick zu und versuchte, sich die Namen in Verbindung mit den Gesichtern zu merken. Die jungen Zimmermädchen beobachteten sie grinsend und schienen ganz verträumt. Falls sie erwarteten, dass Bailian seine große Liebe geheiratet hatte und dass im Hause nun wundervolle Harmonie herrschen würde, würden sie bitter enttäuscht werden.

Bailian hielt ihr den Arm hin. "Möchte die Hausherrin ihr Heim betreten?", fragte er sie schelmisch grinsend und Lucinda wusste nicht so recht, ob er sie oder den Butler damit ärgern wollte. Sie machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel, hakte sich unter und schenkte ihm ein breites Lächeln.

"Aber natürlich, mein Liebster", sagte sie laut und freute sich über Bailians überraschten Blick, während die Zimmermädchen vergnügt quietschten. Gemeinsam schritten sie die Treppe hinauf und gingen durch die Eingangstür, die ihnen aufgehalten wurde und Lucinda sah sich in der imposanten Halle um. Die Einrichtung war so prunkvoll, wie es sich für einen Lord gehörte, strahlte jedoch wesentlich mehr Wärme aus als es bei dem Anwesen von Bailians Onkel, Lord McLocklyn, der Fall war.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now