Kapitel 24

336 49 10
                                    


Ich starrte aus dem Flugzeugfenster. Wir waren im Landeanflug auf Berlin. Ja, das Wochenende mit dem Konzert stand an. Mein Blick glitt zu der Sitzreihe auf der anderen Seite. Da saßen Lucy und Andi. Lucy kuschelte sich an Andis Schulter und strahlte glücklich, während er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ja, so sollte es ja auch eine Woche nach der Hochzeit sein, wenn man in die Kurzflitterwochen flog. „Bienchen, alles okay?" Luca hatte scheinbar meinen Blick bemerkt und griff nach meiner Hand. Er drückte mir einen sanften Kuss auf die Wange. Ich nickte schnell. War wirklich alles okay? Eigentlich ja. Luca hatte sich noch sofort auf dem Rückweg in den Biergarten bei mir entschuldigt, dass er mich so blöd wegen der Brautentführung  angegangen war. Er war halt nervös, weil alles perfekt für seine Schwester laufen sollte. Deshalb hatte er ja einen genauen Plan erstellt. So wie er es immer tat, wenn etwas enorm wichtig für ihn war. Ich kannte ihn ja lange genug, um das zu wissen und war ihm auch nicht wirklich böse. Nein, im Gegenteil. Ich konnte ihn ja verstehen, ich liebte ihn sogar dafür, dass er sich so für die Menschen, die ihm wichtig waren, einsetzte. Aber trotzdem war eigentlich überhaupt nichts okay, denn er wusste noch immer nicht, dass es mit meinem Studium Probleme gab. Wirklich ernst zu nehmende Probleme! Und das ich als Stadionguide arbeitete, wusste er auch nicht. Und das war mit Sicherheit eine riesige Abweichung von seinem.....ähm unseren Lebensplan. Ich musste ihm das unbedingt sagen. Aber wie? Vielleicht wartete ich doch besser bis nächste Woche. Phil flog nämlich am Montag mit uns zurück nach Dortmund und begleitete mich dann zur Studienberatung, um einen Studiengangwechsel klar zu machen. Ich war so glücklich, dass er mich da unterstütze. Er hatte echt gute Ideen, die ich ohne ihn niemals gehabt hätte und er kannte sich mit der Uni und ihren bürokratischen Herausforderungen aus. Er studierte ja auch schon länger. In letzter Zeit fragte ich mich häufig, warum er eigentlich nicht schon immer mein Lieblingsbruder war. Es war schon komisch. Bei uns Zwillingen hatte es immer eine klare Aufteilung gegeben. Tessa hatte an Phil geklebt und ich an Max. Wahrscheinlich lag es daran, dass Phil mir viel zu laut und bestimmt war, genau wie Tessa. Sie hatte in unserer Zwillingsbeziehung ja auch immer das Sagen. Und Max war mehr sowie ich, der Ruhige. Er war immer der, der besorgt war und für Harmonie gesorgt hatte. Damals hätte ich echt nicht gedacht, dass in Phil auch so ein Beschützer schlummerte. Schließlich hatte er nur eine große Klappe und war nie einem Witz auf Kosten anderer abgeneigt. Dummerweise war ich ihm oft genug zum Opfer gefallen. Dann hatte mich immer Max getröstet. Na ja, und da Max ja mit seiner Leo zusammen war und ich mit Luca zur selben Zeit zusammenkam, hatte es sich wohl auch ergeben, dass wir immer viel zusammen als Paare machten. Schließlich war Leo ja schon von kleinauf meine beste Freundin. Da war eigentlich immer Tessa irgendwie außen vor. Sie hatte es aber überhaupt nicht gestört. Sie hatte ja den Fußball und Lucy. Garantiert hätte niemand darauf gewettet, dass die beiden jetzt schon verheiratet waren, denn Jungs interessierten sie eigentlich beide nicht, sondern nur Fußball. Komisch, wie sich die Zeiten änderten. Damals hätte wohl jeder eher gedacht, dass ich schon verheiratet wäre. So wie ich nie gedacht hätte, dass Phil etwas anderes als ein oberflächlicher Weiberheld mit großer Klappe war. Ja, wenn man älter wurde, änderte sich so einiges und man sah vieles anders. Ich war jedenfalls zufrieden, dass ich meinen großen Bruder hatte, der mir mit meinem Studienproblem so zur Seite stand. Manchmal kam eben wirklich die Hilfe von einer Seite, von der man es gar nicht erwartete. Mein Blick haftete immer noch am Fenster und ich schaute hinaus. In weiter Ferne sah ich die Stadt und unter uns eine Autobahn. Dann mussten wir wohl bald landen, so dicht wie der Boden schon war. „Hast du Angst, Bienchen?" Luca legte seinen Arm um meine Schulter und schaute mich besorgt an. Ja, Phil hatte ihm noch einmal einen ausführlichen Vortrag über Angstzustände gehalten und seitdem war er dann doch sehr bemüht um mich. Außerdem hatte er ihm auch gedroht, dass er ihn sich vornehmen würde, wenn er noch ein einziges Mal so mit mir umsprang, wie auf der Hütte. Das zeigte so wie es aussah wohl Wirkung. Obwohl es mir peinlich gewesen war, denn ich schaffte es durchaus meine eigenen Kämpfe zu führen und meinem Freund klar zu machen, dass das so nicht ging. Und seine Erklärung war ja auch verständlich. Trotzdem fand ich es süß, dass er jetzt so besorgt um mich war.  Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, alles ist gut. Ich freue mich nur schon auf Berlin." Er verzog sein Gesicht. Ja, Berlin war nicht wirklich einer seiner Lieblingsorte. Keine Ahnung, woran das lag. Mir hatte es jedenfalls bei unserem letzten Besuch zum Pokalfinal hier sehr gut gefallen. Schade, dass Papa und Mama nicht oft mit uns zu Mamas Familie gefahren waren, sondern die uns immer besucht hatten. Na ja und auf die Idee Phil zu besuchen, der hier studierte und wohnte, war ich auch nie gekommen. Das würde sich aber ab sofort ändern, denn ich wollte die Verbindung zu meinem großen Bruder nicht wieder verlieren. Nicht nachdem ich jetzt wusste, was für ein toller und verlässlicher Kerl er war. Mehr, als nur ein Großmaul. Und dann waren da ja auch noch meine Großeltern, die ich auch viel zu selten sah. Ich musste daran denken, wie Tessa mir erzählt hatte, was unsere Oma alles für sie getan hatte, als sie schwanger bei ihnen aufgeschlagen war und nicht wusste, was sie machen sollte. Obwohl ich immer noch ein wenig traurig war, dass meine Zwillingsschwester mich nicht eingeweiht hatte. Andererseits, wäre ich mit der Situation heillos überfordert gewesen. Ich war mir nicht sicher, dass ich da richtig reagiert hätte, so wie Oma. Und Opa war sowieso immer ein ganz lieber. Vielleicht sollte ich auch einmal mit Oma wegen meines Studiums sprechen. Obwohl nee, dann würde es ja Luca mitbekommen. Und das konnte ich noch gar nicht gebrauchen. Ich musste jetzt noch warten, bis Phil und ich das geklärt hatten nächste Woche. Und dann würde ich es sofort mit ihm besprechen. Noch bevor ich mit Papa und Mama darüber sprach. Ja, so würde ich das machen, auch wenn es bedeutete, dass mir die ganze Sache noch bis dahin im Magen lag. Das war halt der Preis für mein Versagen. Aber es war besser so, wenn ich schon eine Lösung präsentieren konnte und nicht nur ein Problem. Ich spürte das Aufsetzen des Fahrwerks auf der Rollbahn. Berlin, here we are. Meine dunklen Gedanken waren mit einem Schlag wie weggespült. Mensch, was ich mich auf das Wochenende und meine Familie freute.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt