Kapitel 1

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AMALIA

"Hola Casita!" Ich begrüßte das magische Haus meines besten Freundes und winkte, worauf Casita mit ihren Fensterläden ein Winken zurückgab. Ich musste lachen. Seit zwanzig Jahren kam nun schon hierher und jeden Tag begrüßte Casita mich genau gleich. Ich mochte sie. Mit einem magischen Haus war das Leben um einiges leichter. Tisch decken, aufwachen oder allein schon die Treppe hinunter zu kommen war so wesentlich einfacher! Ich lief den Steinweg hinauf, strich mir eine lose Strähne meiner braunen Locken hinters Ohr, die sich aus meinem geflochtenen Zopf gelöst haben musste, und nahm meinen Korb in die andere Hand. Ich hatte meinem besten Freund Bruno einige selbst gebackene Kekse mitgebracht. Er liebte meine Kekse und damit seine Ratten Amigo und Carla und er etwas zu essen bekamen, hatte ich ihm extra welche gebacken. Er kam nicht oft oder gerne raus, aufgrund der anderen Leute im Dorf. Seine Schwestern und er hatten nämlich alle an ihrem fünften Geburtstag durch das Wunder, das sie in ihrer Familie beherbergten, magische Gaben bekommen. Während seine älteste Schwester Pepa das Wetter je nach ihrer Laune verändern konnte und Julieta mit ihrem Essen Verletzungen heilen konnte, war Bruno in der Lage in die Zukunft zu sehen. Er machte das wirklich sehr gut, aber leider sah er häufig schlechte Dinge. Jedes Mal, wenn die Bewohner ihn um eine Vision baten und diese schlecht ausfiel, machten sie ihn dafür verantwortlich. Als könnte er etwas dafür, was er sah! Er machte die Zukunft ja nicht, er sah sie bloß! Leider sahen alle anderen im Dorf nicht so, nicht mal meine Eltern, und deswegen hatten sie mir schon mit sechs Jahren verboten, Bruno weiter zu sehen. Das hatte mich aber nicht davon abgehalten mich heimlich wegzuschleichen und meinen besten Freund zu besuchen. So einfach würde das nicht funktionieren! Wir waren schließlich Freunde und nichts konnte uns trennen! Die Madrigal-Drillinge und mich verband eine zwanzigjährige Freundschaft, es war also absolut ausgeschlossen, dass ich sie jemals freiwillig im Stich lassen würde! Und verlassen würde ich unser Dorf, das Encanto, auch niemals freiwillig, also bestand auch keine Chance, dass wir uns jemals trennen würden. Ich ging auf die Tür des Hauses zu. "Casita, ist Bruno da?" Das Haus ahmte mit seinen Dachziegeln ein Schulterzucken nach. Wieso wusste sie nicht, ob Bruno da war? Tja, dann musste ich wohl bei Brunos Mutter Alma nachfragen. Ich ging in die große Küche und fand Alma am Herd stehen. "Hola, Alma. Ist Bruno da?" Sie drehte sich zu mir um.
"Oh, hola, Lia. Ich hab ihn heute noch nicht gesehen, um ehrlich zu sein. Er wollte eigentlich ins Dorf, aber ich hab ihn nicht gehen gesehen. Um ehrlich zu sein, suchen Pepa und Julieta ihn auch schon den ganzen Tag", antwortete sie mir und zeigte auf den Korb in meiner Hand. "Hast du ihm wieder Kekse mitgebracht?"
"Ja, genau. Damit krieg ich ihn vielleicht aus seinem Versteck", erwiderte ich. "Ich sage Bescheid, wenn ich ihn gefunden habe."
"Mach das." Also ging ich die Treppe nach oben und überlegte mir, wo ich anfangen könnte zu suchen. Vielleicht im Kinderzimmer, wo er immer schlief? Das war eine Möglichkeit, aber wenn selbst Julieta und Pepa ihn nicht hatten finden können, dann saß er bestimmt nicht einfach auf seinem Bett und starrte Löcher in die Luft! Und in seinem magischen Zimmer, dem hohen Turm mit den Steintreppen und dem Raum voller Sand, in dem er seine Visionen hatte, würde er dann bestimmt auch nicht sein. Also wo konnte ich noch suchen? Wo könnte er noch sein, wo ihn niemand fand? Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Unser Geheimversteck! Hinter einem der Bilder im Haus war ein Geheimgang zwischen den Wänden, den wir vor einigen Wochen zufällig entdeckt hatten und wenn man diesen hinabging, kam man zu unserem Geheimzimmer hinter der Küche. Dort hatten wir uns ganz gemütlich eingerichtet und niemand außer uns wusste davon, also war er bestimmt dort. Also ging ich zu dem Bild mit den Blumen darauf, schob es zur Seite und schlüpfte dann in den dunklen, staubigen Gang.
"Brunito? Bist du hier?", rief ich den Gang hinab, obwohl ich genau wusste, dass er seinen Spitznamen nicht mochte. Aber mit etwas Glück regte er sich dann auf und kam aus seinem Versteck. "Brunito!" Ich ging den Gang weiter hinab, bis ich an das Loch im Boden kam. Ich stieg darüber hinweg, doch als ich hinuntersah, sah es beinahe so aus, als würde dort jemand sitzen. Grüner Poncho mit Kapuze und zwei kleine Ratten auf den Schultern. Bruno. Ich wusste aber, dass ich ihn da nicht so einfach rausbekommen würde, also seufzte ich und setzte mich neben dem Loch auf den Boden. "Na gut, wenn er nicht hier ist, esse ich meine Kekse eben alleine." Ich nahm einen Keks aus dem Korb und hielt ihn näher an das Loch, aber es kam keine Reaktion. Gut, dann weiter im Text. "Mann, die sind echt gut!" Bevor ich den Keks essen konnte, schoss die Hand meines besten Freundes aus dem Loch und wollte nach dem Keks greifen, aber ich hielt seine Hand fest. "Komm hoch und erzähl mir, was passiert ist, dann kriegst du deinen Keks." Er murrte unzufrieden, bevor er doch aus dem Loch kletterte und sich neben mich setzte. Er zog sich die Kapuze vom Kopf, strich sich seine wirren, schwarzen Locken aus den Augen und nahm sich den Keks, den ich ihm hinhielt. Seine Ratten hüpften von seiner Schulter, nahmen sich einen Keks und verschwanden dann in der Dunkelheit. "Also, erzähl. Ich bin ganz Ohr."
"Ach, war nur wieder ein doofer Tag", murmelte er und biss in den Keks.
"Definiere doof. Muss ich jemandem ins Gesicht schlagen?", fragte ich nach, worauf er mich ernst ansah.
"Gewalt ist keine Lösung, Lia", wandte er ernst ein.
"Ich weiß, ich will dir ja bloß helfen. Erzähl also bitte endlich", erwiderte ich ungeduldig, worauf er seufzte.
"Na ja, Señora Hernández hat mich nach ihrer Zukunft gefragt und ich hab gesehen, dass ihr Goldfisch stirbt. Sie meinte, dass es meine Schuld ist und hat mich angeschrien. Da bin ich abgehauen, bevor der Rest des Dorfes mich auch noch zusammenschreien konnte. Denn ich bin ja Bruno und jeder geht bei mir immer vom schlimmsten aus!", erklärte er niedergeschlagen, worauf ich ihn in den Arm nahm.
"Oh, Bruno, die dumme Kuh hat doch keine Ahnung! So, wie die sich um ihren Fisch kümmert, ist es ein Wunder, dass er überhaupt länger als drei Stunden gelebt hat! Du bist nicht schuld an dem, was passiert, du siehst es ja bloß und verursachst es nicht! Du darfst dir keine Schuld geben, ja? Sonst muss ich dir die Kekse wieder wegnehmen", wandte ich ein und lächelte ihn an. "Und das willst du doch nicht, oder?" Er grinste.
"Ist schon gut, ich hab es verstanden. Nicht Trübsal blasen, sondern Kekse essen, schon kapiert. Danke, Lia. Was würde ich nur ohne dich tun?", erwiderte er lächelnd. Ich warf einen Blick in das Loch neben uns und sah dann Bruno an.
"In einem dunklen Loch mit deinen Ratten sitzen und hungern?", schlug ich grinsend vor, worauf wir beide lachen mussten.
"Ja, das wäre wahrscheinlich so", gab er zu und nahm sich noch einen Keks. "Die sind übrigens echt gut, wie machst du die nur? Jedes Mal, wenn ich versuche zu backen, geht die Küche in Flammen auf und Pepa muss es regnen lassen."
"Ich weiß, ich war das letzte Mal dabei. Und jetzt komm, wir gehen raus und sagen den anderen, dass du noch am Leben bist. Und ich könnte dir dann die Lichtung im Wald zeigen, die ich gefunden habe! Du wirst sie lieben!", erwiderte ich und zog ihn auf die Füße, bevor ich ihm meinen Korb in die Hand drückte. "Und behalt die Kekse, du kannst den Zucker mehr gebrauchen als ich." Wir gingen zusammen zurück zur Galerie, bevor wir hinunter in die Küche gingen. Pepa und Julieta waren jetzt auch dort und redeten mit ihrer Mutter, als Bruno und ich reinkamen. Ich harkte mich bei ihm unter. "Hey, seht mal, wen ich gefunden habe! Unseren kleinen Rattenkönig!" Sofort drehten sich alle zu uns um. Während Pepa und Julieta mich glücklich begrüßten, stellte Bruno den Korb mit den Keksen auf der Anrichte ab. Casita schlug ihm mit einem Ziegel gegen den Kopf, worauf er sich den Kopf hielt.
"Au, Casita! Was soll das denn?", beschwerte er sich beleidigt, ich verkniff mir ein Grinsen.
"Sie will dir sagen, dass du dich nicht immer verstecken sollst!", antwortete ich ihm, Alma nickte zustimmend.
"Ganz genau! Wo warst du überhaupt, hijo?", fragte sie neugierig nach.
"Ach, nur ein bisschen in meinem Zimmer", wich er aus. "Lia hat mich mit ihren Keksen rausgelockt."
"Sehr gut! Dann wissen wir ja wenigstens, wie wir dich das nächste Mal finden können!", meinte sie, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte.
"Ach, keine Sorge, ich komme jederzeit gerne vorbei und helfe!", sagte ich und lächelte Bruno an. "Wir wollen übrigens noch eine Runde in den Wald gehen. Wäre das in Ordnung, oder wollt ihr gleich essen?"
"Geht ruhig, das hier dauert noch eine Weile", erwiderte Alma, also harkte ich mich bei Bruno unter.
"Also? Gehen wir? Ich weiß nicht, ob ich den Weg zur Lichtung wiederfinde, wenn ich noch länger damit warte, sie dir zu zeigen!", fragte ich, er nickte.
"Na gut, lass uns gehen. Aber nicht durchs Dorf, ja? Ich will niemanden sehen", bat er, ich nickte.
"Na klar, wir gehen direkt hinter dem Haus in den Wald, keiner sieht uns", beruhigte ich ihn und sah die anderen an. "Wir sehen uns später."
"Sicher. Bleib doch gerne zum Essen, wenn du möchtest", bot Alma an, ich lächelte.
"Das mache ich gerne, danke", stimmte ich zu, bevor ich Bruno aus der Tür zog. Jetzt würde ich erstmal mit meinem besten Freund den Tag verbringen und ihm einen neuen Ort zeigen. Er würde ihn lieben, da war ich mir sicher! Dort war noch nie jemand gewesen und es war schön ruhig, so wie Bruno es gern hatte. Also würde er unseren neuen Geheimplatz lieben, da war ich mir sicher. Und er war sogar weniger staubig als die Geheimkammer, obwohl sie um einiges bequemer war. Aber wir würden uns schon an beiden Orten gut einrichten, ganz sicher. Solange wir nur zusammen waren, war alles in Ordnung.

Ich brauche dich, BrunoWhere stories live. Discover now