Kapitel 20

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BRUNO

Als ich nachts von einem kleinen Spaziergang nach Hause kam, nieselte es immer noch und ein leichter Wind war aufgezogen. Ich hatte nicht schlafen können und daher beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen. Mamá, Pepa und Julieta würden es sowieso nicht mitbekommen, sie alle schliefen schon. Als ich mich Casita näherte, stoppte sie mich urplötzlich mit ihren Ziegeln, sodass ich beinahe hinfiel. Was sollte das? Ich sah mein Haus verwirrt an.
"Casita, was soll das?", fragte ich perplex nach, worauf sie ihre Türen immer wieder schnell hintereinander öffnete, was beinahe wie ein nervöses Fingerzeigen aussah. Was wollte sie mir sagen? "Casita, ich verstehe nicht ganz. Was willst du mir sagen?" Die Ziegel drehten mich auf dem Weg um, sodass ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte. Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und aufsah, blieb mir der Atem weg. Lia stand am Anfang unseres Grundstücks und sah mich an. Träumte ich gerade etwa? Machte mein Schlafmangel sich jetzt mit so einem fiesen Streich bemerkbar? Das war nicht fair! Ich starrte Lia nur fassungslos an und ging auf sie zu. Sie lächelte mich an.
"Ich bin wieder da, Brunito. Wie gesagt, ich finde immer einen Weg zu dir zurück - immer", sagte sie, aber ihre Stimme klang seltsam hallig. Als wäre sie... gar nicht da. Enttäuscht blieb ich stehen.
"Lia? Bist du es wirklich?", fragte ich nach, sie lachte, aber auch dieses Mal klang es hallig.
"Natürlich, amor. Du kennst mich doch, oder? Wo sollte ich sein, wenn nicht bei dir?", erwiderte sie, und da hatte sie eigentlich recht. Sie würde zu mir zurückkommen.
"Aber... du bist nicht hier!", wandte ich ein, weil ich langsam begriff, dass das hier leider doch ein Traum war.
"Ich bin immer da, Brunito. Ich würde dich nie verlassen. Niemals", erwiderte sie und als ich das nächste Mal blinzelte, war sie verschwunden.

Ich öffnete die Augen. Es war wirklich nur ein Traum gewesen. Ich hatte nur geträumt, dass Lia hier gewesen war. Ich hasste meinen Kopf dafür, ich hatte mir wirklich Hoffnungen gemacht! Ich seufzte leise und stand auf. Trotz dessen, dass ich das alles nur geträumt hatte, hatte ich ein komisches Gefühl. Irgendwas in mir sagte mir, dass meine Traum-Lia recht hatte. Ich fühlte, dass sie hier war. Irgendetwas war anders als die letzten Tage. Aber was war es? Ich hatte das Gefühl, als wäre etwas oder jemand in der Nähe. Ich ging zum Fenster und öffnete es, aber draußen war keiner. Trotzdem hatte ich das Gefühl etwas zu fühlen - nur was? Ich ging hinaus auf die Galerie, nachdem ich mir meinen Poncho angezogen hatte und sah mich um, aber auch hier war alles still und friedlich. Wie von Geisterhand zog es mich nach draußen an die frische Luft. Es war kühl draußen, aber es hatte aufgehört zu regnen. Immerhin etwas. Ich ließ mich von meinen Beinen - oder meinem Herzen? - hinunter ins dunkle Dorf tragen. Vor der Kirche blieb ich stehen. Was tat ich hier? Wieso war ich gerade zur Kirche gegangen? Aber das Gefühl in meinem Inneren wurde immer stärker, ich konnte dem Drang nicht widerstehen die Tür zu öffnen. Ich stieß sie leise auf. Unsere Kerze stand noch auf dem Altar und leuchtete, neben ihr stand jemand. Lia. Träumte ich wieder nur? War das nur wieder ein böser Traum, der mich in die Irre führen wollte? Unsicher ging ich den Gang hinab und hielt auf Lia zu. Sie trug noch meine Klamotten, also musste sie es sein.
"Lia?", flüsterte ich leise, worauf sie sich umdrehte. Sie lächelte mich verlegen an, während die Kerze hell aufleuchtete.
"Bruno. Du bist hier! Es... es tut mir leid, dass ich abgehauen bin! Ich hab nur... Zeit für mich gebraucht! Ich hätte das nicht tun sollen, ich weiß, aber ich hab mich einfach so schuldig gefühlt, wegen dem, was meiner Mutter passiert ist und...", erwiderte sie, aber ich unterbrach sie, indem ich sie stürmisch umarmte.
"Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht! Ich dachte, du würdest nie wieder zurückkommen!", flüsterte ich ihr erleichtert zu und drückte sie so fest an mich, dass ich keine Luft mehr bekam. Sie erwiderte die Umarmung.
"Es tut mir wirklich leid! Ich hätte nicht so lange wegbleiben sollen, aber ich musste über die letzten Tage nachdenken. Aber ich verspreche dir, dass ich jetzt nie wieder von deiner Seite weichen werde, ehrlich. Es war ein großer Fehler dich zu verlassen und das werde ich nie wieder tun! Te quiero, Bruno Madrigal. Bitte, verzeih mir meine doofe Aktion!", bat sie verzweifelt und vergrub ihren Kopf an meiner Schulter. Ich atmete ihren angenehmen Duft ein und bemerkte, wie sehr mir dieser Geruch gefehlt hatte.
"Das tu ich, Lia, das tu ich. Aber sag mir bloß, wo du warst! Wir haben tagelang das ganze Encanto nach dir abgesucht und keiner konnte dich finden! Und wieso bist du gerade hierher gekommen? Zur Kerze?", fragte ich weiter neugierig nach und ließ sie endlich wieder los. Sie seufzte leise.
"Ich war außerhalb der Berge, in der Nähe eines anderen Dorfes. Ich wollte dort zur Ruhe kommen und über alles nachdenken, aber ich konnte Encanto nicht den Rücken zukehren, also saß ich einfach auf einem Berg und habe nachgedacht. Ich bin heute Nacht wieder zurückgekommen, zur Kerze, weil ich darüber nachgedacht habe, was du gesagt hast. Die Kerze spürt Liebe, hast du gesagt. Ich wollte sehen, ob du mich überhaupt noch liebst, nach allem, was ich dir angetan habe. Also bin ich gekommen, um nach der Kerze zu sehen. Sie hat hell geleuchtet, als ich näher gekommen bin und als du dann die Tür geöffnet hast... tja, da hat sie so hell gestrahlt, dass ich wusste, dass es richtig war zurück zu kommen. Wie gesagt, es tut mir verdammt leid, aber in diesem Moment habe ich keinen anderen Ausweg gesehen. Jetzt bin ich hier, um das wieder gutzumachen. Ich will meiner Mutter helfen, damit sie sich endlich von meinem Vater trennen kann. Sie schafft das nicht alleine, aber sie kann auch nicht bei ihm bleiben. Kannst du mir helfen, das auch noch zu schaffen? Bitte", erklärte sie, ich nickte, ohne weiter darüber nachzudenken.
"Natürlich, Lia. Ich helfe dir bei allem, was du willst", stimmte ich schnell zu und lächelte sie an. "Und Esteban bekommt seine faire Strafe, versprochen. Wollen wir jetzt nach Hause gehen? Ins Bett? Dann können wir morgen in aller Frische rangehen. Und alle werden sich freuen, dich wiederzusehen."
"Das hoffe ich doch." Ich nahm ihre Hand und drückte sie.
"Das ist so, du musst nicht hoffen. Wir alle lieben dich - besonders ich", erwiderte ich und nahm die Kerze vom Altar. "Los, lass uns nach Hause gehen. Und die Kerze bringen wir am besten auch dorthin zurück. Mamá vermisst sie bestimmt schon."
"Genauso wie ich dich vermisst habe", murmelte sie an meine Schulter und drückte meine Hand.
"Und ich dich auch, mi vida. Bleib einfach bei mir, ja? Versprich mir das", bat ich, sie nickte und gab mir einen Kuss auf die Wange.
"Ich verspreche es dir, Brunito. Ich lasse dich nie wieder alleine."

Ich brauche dich, BrunoWhere stories live. Discover now