Kapitel 6

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BRUNO

Ich war noch mitten im Tiefschlaf, als mein Bett sich zu bewegen begann. Ich drehte mich müde um und knurrte, in der Hoffnung, dass ich dann in Ruhe weiterschlafen konnte, aber offensichtlich brachte meine leise Beschwerde nicht viel. Mein Bett hüpfte immer wieder auf und ab, worauf ich die Augen öffnete.
"Casita, was soll das?", fragte ich genervt. "Ich will schlafen!" Doch das Haus schien nicht der Meinung zu sein, dass ich noch schlafen wollte, denn es schüttelte mein Bett solange hin und her, bis ich mich schließlich geschlagen gab und aus dem Bett schlüpfte. "Ist gut, ich stehe auf. Was willst du denn?" Nichts passierte. Hatte Casita mich einfach nur ärgern wollen? Wieso warf sie mich aus dem Bett, wenn nichts Wichtiges war? Ich ging zum Fenster und öffnete es, doch konnte draußen nichts Außergewöhnliches sehen. Wieso hatte Casita mich geweckt? Ich zog mich an, bevor ich das Zimmer verließ und nach unten ging. Ich hörte Julieta in der Küche mit jemandem reden, also ging ich dorthin. Lia war dort, sie hatte wieder einen Korb mit Keksen dabei und regte sich scheinbar über etwas auf. Hatte Casita mir das mitteilen wollen? Dass Lia da war und sie meinen Beistand brauchte? Aber wieso hatte sie mich dann nicht nach unten gebracht? Und wieso hatte Lia mich nicht wie sonst auch geweckt, um mir zu erzählen, was los war? Hoffentlich war es nichts schlimmes! Ich ging in die Küche und klopfte gegen den hölzernen Türrahmen.
"Klopf, klopf, klopf, klopf, klopf auf Holz", murmelte ich leise und klopfte noch auf meinen Kopf, bevor ich eintrat. Lia und Julieta sahen zu mir auf.
"Guten Morgen, hermano. Wieso bist du schon so früh wach?", fragte Julieta verwirrt. Tja, das fragte ich mich allerdings auch!
"Ich weiß es nicht, Casita hat mich aus dem Bett geworfen", antwortete ich unsicher und sah Lia an. "Was ist los? Du siehst aufgeregt aus." Sie seufzte.
"Ich rege mich nur über meinen Vater auf, du weißt ja, wie er ist", erwiderte sie und schüttelte den Kopf. "Er ist immer noch dagegen, dass ich arbeite oder eine Bäckerei eröffne. Und dabei ist das doch mein größter Traum! Wie kann er nur so stur sein?! Eine Menge Frauen habe eigene Geschäfte im Dorf und die laufen gut! Wie kann er nur meinen, dass ich das nicht kann?" Ah, das war es also. Lias Vater Esteban war schon immer so gewesen und war der Meinung, dass ein Mädchen nur ein erfülltes Leben haben konnte, wenn sie möglichst viele Kinder gebar und zuhause blieb, um zu kochen und zu putzen. Dass Lia damit nie im Leben glücklich werden konnte, interessierte ihn nicht. Seine Frau Ines hatte früher noch versucht ihm die Lage zu erklären, aber er hatte immer angefangen zu schreien und ihr zu widersprechen und sie hatte es aufgegeben. Ich wusste nicht, wieso Ines sich das alles von Esteban gefallen ließ, aber irgendetwas musste es da geben, sonst würde sie sich mehr für ihre Tochter einsetzen, die ihr eigentlich alles bedeutete.
"Keine Ahnung, wieso dein Vater das denkt", gab ich unsicher zu und zuckte die Schultern. "Deine Kekse sind wirklich Gold wert, du könntest wirklich Erfolg mit einer eigenen Bäckerei haben!" Sie lächelte mich an.
"Danke, dass wenigstens du an mich glaubst. Aber mein Vater hat da leider eine ganz andere Meinung. Ich hab es heute Morgen nur ganz kurz angesprochen und er ist sofort ausgerastet. Und er hat mal wieder gegen dich gewettert, aber ich konnte ihn zum Glück davon überzeugen, dass wir nicht zusammen auf dem Fest waren", erwiderte sie, ich seufzte. Es war klar gewesen, dass Esteban etwas mitkriegen würde und dass er sofort über mich meckern würde, aber ich war einfach nur froh, dass Lia ihn hatte anlügen können und keinen Ärger bekommen hatte. Das war sehr viel wichtiger als alles andere.
"Wenigstens das", murmelte ich, während Julieta Lia eine Hand auf die Schulter legte.
"Mach dir keine Gedanken, Lia. Du wärst eine tolle Bäckerin und irgendwann wird dein Vater das auch erkennen. So ein Talent kann er nicht ewig zurückhalten! Spätestens wenn der Rest des Dorfes von deinen Backkünsten erfährt, werden sie fordern, dass du für alle backst! Dann hat dein Vater gar keine andere Wahl mehr, als dich backen zu lassen! Entweder als private Bäckerei zuhause oder in deiner eigenen Bäckerei!", munterte meine Schwester meine beste Freundin auf, die sie dankbar anlächelte.
"Danke, Julieta. Du weißt wirklich immer, was man sagen muss", sagte Lia dankbar und sah mich an. "Wollen wir uns ein bisschen ablenken und mit den Ratten üben gehen? Das würde mir jetzt guttun."
"Ja, gute Idee. Dann komm, lass uns hochgehen und Amigo und Carla suchen. Ich hab sie heute noch nicht gesehen", stimmte ich zu, worauf Lia sich einige Kekse nahm und wir dann nach oben gingen. Wir gingen ins Kinderzimmer und fanden Amigo und Carla in meiner Schublade, wo sie schliefen. Lia weckte die beiden, während ich das Drehbuch aus meinem Nachtschrank holte. Ich hatte noch nicht anfangen können die Kostüme zu nähen, hatte mir aber schon einige Skizzen gemacht, an denen ich später arbeiten wollte. Vielleicht auch mit Lia, wenn sie Lust darauf hatte. Sonst würden wir uns einfach so um das Stück kümmern.
"Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie die Kulisse aussehen soll?", fragte Lia nach, während sie die Ratten aus der Schublade holte und sie auf der Kommode absetzte.
"Um ehrlich zu sein noch nicht. Aber es wird etwas einfaches sein, wie eine kleine Wohnung", antwortete ich ihr.
"Ok, alles klar. Darum kann ich mich dann kümmern, wenn du möchtest. Zuhause haben wir noch eine Menge Pappe und Stifte", erwiderte sie, während ich mit dem Drehbuch zu ihr kam.
"Alles klar, aber ich will dir auch helfen", stimmte ich zu.
"Natürlich hilfst du mir! Ich glaube nicht, dass ich das komplett alleine hinbekommen werde", erwiderte sie grinsend und schlug die erste Seite des Buches auf. "So, womit fangen wir an, Herr Regisseur?"
"Am besten mit Szene eins, in der die Tante - Maria - ihren Unfall hat und beginnt an ihrer Amnesie zu leiden. Nico - ihr Neffe - besucht sie danach im Krankenhaus und sie verliebt sich dort in ihn", antwortete ich ihr, sie nickte und setzte Carla eine kleine, blonde Perücke auf.
"Alles klar, gut. Los geht's, Carla. Gib dir Mühe, ja? Das muss echt aussehen!", sagte sie und hob Amigo auf ihre Schulter, damit er während der Szene nicht im Weg stand. Die kleine Ratte setzte sich dort hin und schnupperte an einer braunen Locke, bevor er sich an Lias Schulter kuschelte. Er schien sie also wirklich zu mögen. Carla hingegen stand einfach nur da und sah uns an, weil sie anscheinend nicht wusste, was sie jetzt tun sollte. Hm, das schien nicht so zu klappen wie gedacht. Ich sah Lia unsicher an.
"Wir müssen uns wohl was für Carla überlegen, das klappt noch nicht so ganz", meinte ich, Lia nickte.
"Sieht so aus, aber ich hab da schon so eine Idee", erwiderte sie und gab mir Amigo in die Hand. "Ok, Carla, pass mal auf. Ich spiele dir vor, wie das aussehen muss." Sie ließ sich auf den Boden fallen und schloss die Augen, wobei sie wohl vorspielen wollte, ohnmächtig zu sein. Und es klappte, es wirkte wirklich überzeugend. Auch, als sie sich nach einigen Sekunden aufrichtete, wirkte sie benommen und wirklich so, als hätte sich etwas getan. Sie sah mich an und begann zu lächeln.
"Oh, hallo, junger Mann", sagte sie. Ah, so also. Ich sollte wohl mitspielen.
"Hallo. Maria, erinnerst du dich nicht an mich?", fragte ich besorgt zurück und kniete mich zu ihr. "Geht es dir gut?"
"Ja, natürlich. Aber wer bist du, du Schönling?", hakte sie weiter nach.
"Ich bin's doch, Nico, dein...", begann ich, doch tat dann so, als würde mich eine aufgehende Tür unterbrechen. Ich drehte mich um.
"Entschuldigen Sie bitte, aber würden Sie mich kurz nach draußen begleiten?", sagte ich mit tiefer gestellter Stimme, um einen Arzt darzustellen. Ich sah Lia an. "Ich bin sofort wieder da." Ich deutete an aus dem Zimmer zu gehen, worauf Lia aufstand und klatschte.
"Es ist der Wahnsinn, was du alles kannst! Wir hätten Schauspieler werden sollen!", rief sie begeistert und sah Carla an. "Und jetzt bist du dran, meine Liebe. Und gib dir Mühe, du hast ja jetzt gesehen, wie es geht!"

Ich brauche dich, BrunoWhere stories live. Discover now