Kapitel 2

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BRUNO

Ich folgte Lia durch den Wald. Sie hüpfte energiegeladen über alle möglichen Steine und kleinen Baumstämme, während ich versuchte mit ihr Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war. Sie war um einiges energiereicher und optimistischer als ich und nichts auf dieser Welt könnte sie jemals von irgendetwas abhalten. Wenn sie etwas vorhatte, dann zog sie es auch durch und ließ sich von niemandem etwas sagen. Schon damals als Kind war das so gewesen und während ich immer ruhig und zurückhaltend gewesen war, war sie durch die Gegend gehüpft und hatte sich mit jedem angelegt, der ihr krumm gekommen war. Sie war um einiges stärker als ich und ich war wirklich froh, sie meine beste Freundin nennen zu dürfen. Ohne sie würde mein Leben definitiv schlimmer verlaufen. Und es war jetzt teilweise schon schlimm genug! Wenn Lia nicht immer da wäre, um mich aufzumuntern, würde ich wahrscheinlich immer in meinem Loch sitzen und mit Amigo und Carla Theaterstücke einstudieren. Das hatte ich für heute auch noch vorgehabt, aber dann hatte Lia mich gefunden. Na ja, jetzt mit ihr durch den Wald zu laufen, war mindestens genauso gut. Dann kam ich wenigstens an die frische Luft und unternahm etwas mit meiner besten Freundin. Sie sah mich an, während sie auf einem Baumstamm balancierte.
"Willst du wissen, wie ich die Lichtung gefunden habe?", fragte sie, und obwohl ich etwas verwirrt von dieser Frage war, nickte ich.
"Ja, erzähl mal", antwortete ich und sah sie ehrlich interessiert an.
"Also, gestern Morgen, als du noch geschlafen hast, bin ich spazieren gegangen. Ich bin durch den Wald gelaufen und wusste dann nicht, wo ich lang laufen sollte. Also hab ich ein Blatt vom Boden aufgehoben und es weggepustet. Ich bin dem Blatt gefolgt und hinter diesen Busch geklettert", begann sie und schob sich durch das Gebüsch, ich folgte ihr. Mein Poncho blieb an den kleinen Dornen hängen, aber ich konnte sie schnell lösen und Lia weiter folgen. "Dann war ich genau hier und wusste wieder nicht weiter. Also hab ich ein weiteres Blatt aufgehoben und weggepustet. Es ist gegen die Palme dort geflogen. Ich bin dahinter gelaufen und dann war ich auch schon da!" Sie zog mich durch ein weiteres Gebüsch, über einen Stein und hinter die Palme, worauf wir auf einer großen, hellen Lichtung standen. Sie war mindestens so groß wie unser Esszimmer und war von einigen Palmen und Büschen umrandet, sodass man sie nicht sofort fand. Ein kleiner Bach plätscherte leise neben uns her und verschwand dann im Unterholz. Diese Lichtung war wirklich wunderschön, Lia hatte recht gehabt. Wir sollten öfter hierherkommen, hier hatten wir sogar eher unsere Ruhe als in unserem Geheimzimmer. "Und? Was sagst du?" Lia sah mich aufgeregt an.
"Du hattest recht, die Lichtung ist wunderschön. Und so friedlich, mir gefällt es hier wirklich sehr gut. Hoffentlich finden wir den Weg hierher wieder. Deine Wegfindung hatte ja doch ein sehr... eigenes Konzept", antwortete ich ihr und setzte mich ins weiche Gras. Lia setzte sich zu mir, zog sich ihre Schuhe aus und hielt ihre Füße ins klare Wasser.
"Ja, das stimmt. Aber es freut mich, dass es dir hier gefällt. Das hatte ich auch wirklich gehofft! Wir könnten das ja zu unserem zweiten Geheimort machen", gab sie zu und lächelte mich an. "Hier bekommst du dann wenigstens auch mal ein bisschen Sonne." Sie lachte und strich mir eine schwarze Strähne aus den Augen. "Das brauchst du dringend, du kleines Bleichgesicht."
"Sehr witzig, Lia. Du weißt genau, dass ich wegen den anderen nicht rausgehen will. Aber hierher können wir gerne immer wieder kommen", wandte ich ein und sah auf meine Sandalen. Zum ersten Mal gefiel es mir draußen sogar. Ob es an Lia oder der Lichtung lag, wusste ich nicht, aber zum ersten Mal fühlte ich mich draußen sicher und geborgen. Dieses Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Hoffentlich verschwand es nie wieder! Ich wollte mich öfter so sicher fühlen. Diese Lichtung und Lias Nähe schienen das in einem Maße möglich zu machen, das ich vorher noch nicht gekannt hatte. Normalerweise hatte ich kleine Rituale, wie auf Holz klopfen, mir Salz über die Schulter werfen oder nicht auf Fugen und Risse im Boden zu treten, um mich vor Pech zu schützen, aber wenn Lia da war, hatte ich manchmal das Gefühl, als bräuchte es all das nicht. Obwohl es ja eigentlich nicht so war, ich musste das machen, wenn ich noch mehr Unheil verhindern wollte. Immerhin hatte ich heute schon einen Goldfisch getötet! Oder zumindest sein Todesurteil ausgesprochen. Also griff ich in die Innentasche meines Ponchos und holte etwas Salz heraus, das ich mir über die Schulter warf. Hoffentlich half das! Ich wollte nicht länger jedem das Leben zerstören! Lia sah mich an und lächelte.
"Wirklich? Hier brauchst du dein Salz?", fragte sie grinsend nach.
"Wer weiß, was passiert, wenn wir hier weggehen. Vielleicht zerstöre ich ausversehen die Lichtung", antwortete ich und zuckte die Schultern. Sie verdrehte die Augen.
"Und vielleicht fällt ein Meteor auf die Erde und zerstört sie! Mensch, Bruno, du bist doch nicht schuld, an den blöden Sachen, die passieren! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Oder soll ich es dir auf die Stirn schreiben?", wandte sie ein und rutschte näher zu mir, um meine Hände in ihre zu nehmen. "Du bist der tollste Mensch, den ich kenne und du hast noch nie etwas Böses getan! Nicht einmal ausversehen! Was kannst du denn dafür, wenn alle Leute im Dorf ihre Zukunft wissen wollen und zu faul sind, um sie dann zu ändern, wenn sie ihnen nicht gefällt? Dios mío, das ist doch nicht dein Problem!"
"Aber ich bin der, der es ihnen sagt! Da liegt die Vermutung natürlich nah, dass alles meine Schuld ist!", konterte ich, worauf sie genervt stöhnte.
"Brunito, wenn ich das noch einmal von dir höre, dann nehme ich dir dein Salz und deine Ratten weg! Du bist nicht schuld! Und das wirst du auch nie sein!", widersprach sie mir sofort.
"Wenn ich deine Zukunft gesehen hätte und sie schlecht ausgefallen wäre, würdest du genauso handeln", erwiderte ich und zog meine Hände zurück.
"Bruno, wir kennen uns seit wir in den Windeln liegen! Wenn du wirklich denkst, dass ich dich für mein Pech verantwortlich machen würde, dann kennst du mich wirklich erstaunlich schlecht! Ich bin deine Freundin, ich würde so etwas nie tun! Du darfst nicht immer alles auf dich beziehen! Jeder ist für sich selbst verantwortlich und das war's! Ehrlich, du musst mir das glauben. Und jetzt hör mit diesem traurigen Blick auf, das tut mir im Herzen weh! Du brauchst dringend bessere Laune!", erklärte sie und griff hinter mich, um mir meine Kapuze überzuziehen. "So, perfekt. Jetzt übernimmt mal Hernando für eine Weile." Hernando war meine erfundene Figur, die im Gegensatz zu mir vor absolut nichts Angst hatte und sich alles zutraute. Er war mein Alter-Ego und jedes Mal, wenn ich wieder schlechte Laune hatte, zog Lia mir einfach meine Kapuze über und irgendwie schaffte sie es jedes Mal damit, mich wieder aufzumuntern. Ich wusste nicht, wie oder warum es klappte, aber es funktionierte. Ich musste unwillkürlich lächeln.
"Ich bin Hernando und ich hab vor gar nichts Angst! Nicht mal vor den doofen Leuten im Dorf!", sagte ich mit tiefer Stimme, worauf Lia lachte.
"Ganz genau! Also, Hernando, was sollen wir machen, damit Bruno auch so gute Laune bekommt?", fragte sie und ließ meine Hände los.
"Wir könnten Amigo und Carla ein neues Theaterstück beibringen und Kekse essen", schlug Hernando vor, Lia grinste.
"Das klingt perfekt, wenn du mich fragst. Dann los, lass uns gehen!", stimmte sie zu und zog mir die Kapuze vom Kopf, bevor sie mich auf die Füße zog und sich bei mir unterharkte. Wir liefen zurück zu Casita und verschwanden in unserem Geheimzimmer. Ich ließ mich in den alten, roten Sessel fallen, der seine besten Zeiten definitiv schon hinter sich hatte. Lia und ich störten uns aber nicht daran, nicht einmal an seinem ständigen Quietschen, denn er war trotzdem das bequemste Möbelstück in unserem Versteck. Der Holzstuhl, der an unserem improvisierten Tisch stand, war die einzige weitere Sitzgelegenheit, aber lange konnte man darauf definitiv nicht sitzen. Dafür war er viel zu unbequem. Trotzdem setzte Lia sich dorthin und nahm die kleinen Bühnenbilder in die Hand, die wir für die Ratten gebastelt hatten. Sie zeigten ein Fußballstadion, eine Quizshow und eine romantische Abendszene, alle jeweils mit Löchern, damit die Ratten ihre Köpfe hindurchstecken konnten, um die Personen zu verkörpern. Lia sah mich an. "Also? Woran hattest du gedacht?"
"Hm... gute Frage", gab ich unsicher zu und dachte kurz nach. Da kam mir eine Idee. "Wie wäre es damit? Wir machen ein Stück über eine Tante, die Amnesie hat und mit ihrem Neffen zusammenwohnt! Sie verliebt sich in ihn, weil sie ja nicht weiß, dass sie verwandt sind! Ihre Liebe dürfte nie sein, aber das weiß sie nicht!" Lia sah mich verwirrt an.
"Wie kommst du auf solche Ideen?", fragte sie lachend nach, doch schüttelte dann den Kopf. "Aber gut, das nehmen wir. Dann mal an die Arbeit!"

Ich brauche dich, BrunoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt