Ace entkommt - einmal

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"Hör Mal." Ace hatte die Hände erhoben und bewegte sich ganz langsam rückwärts, weil er das Gefühl hatte, er müsste es tun. "Ich kenn dich nicht. Und du kennst mich nicht. Und ich weiß, du hast Angst, mir zu vertrauen, aber ich will dir ehrlich sagen - du musst das hier nicht tun. Ich kann dir auch anders helfen, nicht ausgeliefert zu werden. Ich rede mit den Mädchen-" Eigentlich hatte er gehofft, ein paar überzeugende Argumente vorzubringen, aber Abfalltyp sah das anders. Knallen ertönte, als sich ein Schuss löste.

Ace stand immer noch da wie erstarrt, lange nachdem die Kugel schon bröckelnd in die Wand eingeschlagen war. Er atmete hastig und versuchte, keinen überforderten Laut von sich zu geben.

Es war nicht einmal so, dass er Angst hatte. Sein Kopf schwamm nur, unruhig und mit sinnlos aufblitzenden Gedanken. Er fühlte sich wie unter Strom. Nur nicht ängstlich. Wenn Ace ein kleines bisschen weniger an seinem Leben hängen würde, wäre das der Moment, in dem er einen Gegenangriff gestartet hätte.

Unglücklicherweise hing er sehr an seinem Leben. Deswegen atmete Ace noch einmal tief ein, ehe er zitternd meinte: "Okay. Botschaft angekommen. Kannst du mir sagen, was du willst?" Die Waffe schwenkte auffordernd zur Seite, dahin, wo die Tür aus dem Raum führte. Aces Füße kamen ihm taub vor, als er dahin schritt.

Als regelmäßiger Thriller-Leser hatte er eine ungefähre Ahnung und mindestens dreimal so viele Tagträume bezüglich des Falls einer Geiselnahme. (Noch ein paar mehr bezüglich des Falls, dass sein Geiselnehmer ein nicht-ganz-unattraktiver, oberkörperfreier Kerl in seinem Alter war. Aber die hatten an dieser Stelle nichts zu suchen.) Er wusste, dass es sich lohnte, eine persönliche Bindung aufzubauen. Leute ließen sich nicht mehr leicht umbringen, wenn man sich verbunden mit ihnen fühlte. Und als Meister der sozialen Interaktion würde es ihm natürlich nicht im geringsten schwerfallen, eine solche Bindung zu erzwingen.

"Ich bin Ace. Übrigens. Falls das vorhin nicht rüber kam." Seine nervöse Stimme hallte im metallenen Gang umher, und seine Füße patschten leise über den Boden. "Wusstest du, dass ich so alt wie du bin?... Also, siebzehn. Wenn das nicht gelogen war. Und eigentlich komme ich aus Montana, in den USA. Dort lebt auch meine Familie. Zwei Eltern und mein Bruder. Ich hab sie echt gerne - also, klar, sie nerven mich oft, aber wenn ich die Wahl habe zwischen ihnen und ..." Und mit vorgehaltener Waffe durch gruselige Laborkomplexe getrieben zu werden? Ace räusperte sich. "Also, sie sind mir wichtig. Und wären ziemlich traurig, wenn ich nicht zurückkomme. Glaube ich." War das eigentlich okay, seinem Entführer ein schlechtes Gewissen zu machen, erkundigte sich eine Stimme in seinem Kopf. Ace schlug sie beiseite. Das war ja nun wirklich sein letztes Problem! "Hast du ein gutes Verhältnis zu deinen Elte-?"

Er verstummte. Fast unhörbar musste Abfalltyp näher gekommen sein, denn Ace konnte plötzlich den kalten Lauf der Waffe spüren, die sich in seinen Nacken presste. Eine andere Hand legte sich auf seinen Mund, und Ace, der zumindest ein grundlegendes Verständnis von Gesten hatte, hielt es für klüger, die Lippen geschlossen zu halten.

Dann vernahm er die Geräusche. Trippeln und Kratzen, dass schien, als würde es aus den Wänden selbst kommen. Und dazwischen ein massives Schleifgeräusch, wie wenn man etwas sehr großes und sehr schweres bewegte. Ein Teil von ihm sagte, dass das sicherlich nur Branwyn und Katherine waren. Ein anderer fürchtete, dass er es sich damit zu einfach machte.

Die Finger lösten sich zögernd wieder von seinen Lippen, und diesmal hielt er den Mund geschlossen. Sie waren trotzdem nicht weit gekommen, als ein lauter, gellender Schrei ertönte. Er schien sich durch die ganze Anlage zu ziehen.

Ace lief los. Rein aus Reflex. Er konnte die Hand spüren, die noch über sein Shirt strich, ohne ihn ganz zu fassen zu bekommen.

Eigentlich hatte er irgendwie erwartet, dass ihm jeden Moment Kugeln folgen würden, aber diesmal war das Glück auf seiner Seite. Sofern Abfalltyp ihm nachjagte, hatte er wohl vergessen, dass er die Waffe trug. Ace flitzte um Biegungen und lange Stege über den Laborhallen entlang, und das flackernde, blaue Licht reichte kaum bis zum Boden unter ihm. Irgendwas schien sich da zu bewegen, aber - nicht sein Problem. Nicht jetzt. Denn er hatte wieder Branwyns erschüttertes Schreien gehört.

FrostbyteWhere stories live. Discover now