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„Mut ist nicht, keine Angst zu haben, sondern die eigene Angst zu überwinden."
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Erschöpft schlüpfe ich aus meinen staubigen reitklamotten. Eine Staubwolke wirbelt auf und im ganzen Badezimmer riecht es nach pferd. Normalerweise begrüße ich diesen Geruch, und es war schön heute im Stall, aber es war verdammt stressig und irgendwann möchte man damit auch abschalten. Irgendwann brauch man auch von seinen Hobbys einen Feierabend. Ich springe unter die warme Dusche während draußen der Regen in der Dunkelheit prasselt. Das Wasser ist warm und mein Shampoo riecht gut. Fruchtig. Ich wasche meine Haare aus und genieße die letzten warmen Tropfen, ehe ich das Wasser abstelle und meinen Körper in ein Handtuch hülle. Ich bin zu erschöpft um weiter über meine Figur nachzudenken. Ich hatte dies unbewusst den ganzen Tag gemacht. Mich hatte der Gedanke gequält. Er hatte mir Energie geraubt die ich gebraucht hätte. Aber ich habe es viel zu spät generkt. Normalgewicht- es fühlt sich immer noch seltsam an dies zu sagen, oder nur zu schreiben. Normalgewicht... so lange Zeit war ich im Untergewicht gewesen. So lange, dass ich mich an die knochige Gestalt gewöhnt hatte. Aber der Körper jetzt war gar nicht so schlecht. Ich hatte eine Figur bekommen. Und ich war sicher auch nicht zu dick. Ich schlüpfte in bequeme Sachen und kuschelte mich zuletzt in meinen schwarzen Poncho. Ich schüttelte meine Haare aus und bemerkte erneut wie gut sie sich anfühlten seit ich mein Shampoo gewechselt hatte. Ich nahm meine medis und holte mir einen warmen Kakao mit Honig- ja, die Kombi schmeckt tatsächlich :) ich betrat mein Zimmer und war wie erstarrt.

Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer und schaute in die Dunkelheit. Die Vorhänge waren offen und durchs Fenster schien der Schein der Laterne. Ich sog die Luft ein und genoss den Moment. Es roch nach regenluft, nach Waschmittel, nach Kindheit. Ich schloss kurz die Augen und als ich ausatmete schien als würde alle Anspannung und Last kurz abfallen. Als könne ich plötzlich wieder atmen. Wieder klar denken. Von dem dissoziativen Zustand vor nichtmal einer halben Stunde merkte ich nichts mehr. Ich war komplett im hier. Vermutlich mehr als ich es sonst war. Ich sog erneut gierig die Luft ein und während ich da so mit geschlossenen Augen still verharrte hörte ich durch das gekippte Fenster den Regen prasseln. Plötzlich spürte ich auch die deutlich kühlere Luft im Zimmer. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meine Sinne das letzte mal so intensiv wahr genommen habe. Ich verband mein Handy mit der Box und ließ im Hintergrund Ludovico Einaudi laufen- eine perfekte Untermalung. Ich setzte mich auf mein Kissen am Fenster und nahm einen Schluck aus der Tasse. Sogar mein Geschmackssinn war seltsam intensiv grade. Die warme Milch wärmte meinen Bauch und der kakaoige Geschmack zerging auf der zunge. Im Hals spürte ich leicht den Honig. Ich lehnte meinen warmen Kopf gegen die kalte Scheibe und entspannte. Der Tag war vorbei. Und das war gut so. Ich kann jetzt los lassen, nur für diesen Moment. Kraft tanken für tausend weitere Momente. Ich überlegte ob die Wäsche, die im ganzen Zimmer zum trocknen verteilt war, schon trocken war. Aber ehrlich gesagt wollte ich mich da grade nicht drum kümmern. Ich gähnte herzhaft und genoss noch einmal diesen schwerelosen Moment, bevor ich anfing über den Tag nachzudenken. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und ich konnte schon wieder einzelne Sterne sehen. Einaudi ließ seine Finger spielen wie ich es noch bei keinem gehört hatte. Scheiß mal auf Mozart und Beethoven und wie sie nicht alle heißen, für mich bleibt Einaudi der einzig wahre. Ich nahm erneut einen Schluck aus der Tasse und spürte wie die Müdigkeit kam. Langsam und sanft. Wie eine mütterliche Hand die sich nach mir streckt und mich ins Bettchen ruft, während ich weiß, dass mir nichts passieren wird. Das ich sicher bin. Ich hatte noch so viel zu tun, Wäsche, Therapie Aufgaben, aufräumen, Hausaufgaben. Aber ich schob es beiseite und war erstaunt dass ich das konnte. Heute nicht mehr. Wenn die Müdigkeit gleich stark genug war würde ich mich in mein warmes Bett kuscheln und meinen wohlverdienten Schlaf einfordern. Ich leistete so viel im Moment. Schulisch, hobbymäßig, Therapie, Familie, ich selbst. Ich stopfte alles irgendwie unter einen Hut. Freunde. Fremde. Ich war für jeden da. Jetzt musste ich mich um mich selbst kümmern. Denn sonst tat es keiner. Wir alle müssen lernen uns um uns selbst zu kümmern, denn wenn wir es nicht tun, tut es keiner. Gedankenverloren betrachtete ich die paar Sterne. Sie wirken auf mich so still und friedlich. Wenn ich sterbe möchte ich ein Stern sein. Und von dort oben auf die die ich liebe aufpassen und ein Licht in ihrer Dunkelheit sein. Heute vor einem Jahr ist jemand gestorben den ich sehr gerne hatte. Ich habe es nicht geschafft zum Friedhof zu gehen. Vielleicht mache ich das die Woche mal. Ich wünsche ihr so sehr dass sie etwas friedliches gefunden hat wo sie ruhen kann. Sei es nun das Paradies oder der Himmel als Stern. Ruhe in Frieden meine Liebe, ich vermisse dich hier. Ich frage mich ob sie Angst hatte. Sie wusste das sie sterben würde, sie wusste es in dem Moment. Hatte sie Angst? Hatte sie schmerzen? Sicherlich, der Krebs hatte ihren ganzen Körper genommen. Aber niemals ihre Kämpfernatur. Sie hat viel länger gelebt als die Ärzte ihr gaben. Sie war eine Kämpferin. Sie ist eine Kämpferin. Irgendwo wird ihre Seele jetzt sein. Ich glaube nicht dass nach dem Tod nichts kommt. Das es einfach nicht weiter gehen soll. Das kann ich mir nicht vorstellen. Irgendwie wird es weiter gehen. Vielleicht wartet nach dem Tod eine bessere Welt auf uns. Die Kehrseite der Medaille. Für manche mag diese Welt die Kehrseite sein, die goldene Seite, für manche mag dies die Hölle sein. Ich könnte Stundenlang über den Tod und das danach philosophieren, aber ich würde mich darin verlieren. Ich trank die mittlerweile leere Tasse aus und atmete noch einmal tief ein und aus. Wie ich diesen Geruch liebte. Ich war genau richtig erschöpft. Ich spürte die Erschöpfung in meinen Muskeln aber es war eine gute Erschöpfung. Es war nicht zu viel gewesen. Ich fühlte mich nicht überanstrengt. Ich kuschelte mich unter meine zwei decken und schloss die Augen. Mein Atem ging ruhig und langsam und ich fühlte mich das erste mal seit ewigkeiten ein klein wenig sicher. Ich fand in einen ruhigen Schlaf und wusste, egal wie schwer der Tag und das Gespräch morgen sein würde, ich würde es schaffen <3

„wenn ich eins gelernt habe, dann, dass Zeit nicht wiederkommt. Dass eine Minute nach der anderen unerbittlich aus unserem Leben stirbt und dass wir jeden Moment aufs Neue entscheiden müssen, ob wir sie verschwenden oder nutzen. Das jetzt sollte gut sein. Denn uns bleibt nur das jetzt."

~Anne Freytag (nicht weg und nicht da/Roman)~

Nie gut genug Where stories live. Discover now