36

10 2 0
                                    

Der Gurt der Tasche schmerzte auf meinem schulterknochen und die schwere Tasche drückte unangenehm gegen meinen hüftknochen. Ich hätte ja den Bus nehmen können. Aber zu Fuß war ich genauso schnell weil der Bus erst um 20:09 kommen würde. Und beim laufen verbrenne ich wenigstens Kalorien. Ich sog die abendluft ein während ich lied. Es roch kurz nach frischen Holz aber ich lief weiter . Ich sah einen kleinen Spatz der mich zum Lächeln brachte. Und ich sah die Rosen. Vertrocknete Rosen. Und es stimmte mich traurig. Aber ich lief. Rechts von mit ein Bestattungsunternehmen. Ich fragte mich ob meine Mutter wohl bald in ein solches gehen würde. Welchen Stein würde sie mir aussuchen? Ich wollte ihn lieber selbst aussuchen. Ich sollte wohl damit anfangen. Und ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken. Die Sonne knallte aber ich fror in meinem Pulli bei den 26 grad die wir hatten. Es war als hätte ich Schüttelfrost. Müde war ich. Immerzu. Egal wie viel ich schlief. Letzte Nacht hatte ich 11 Stunden geschlafen und heute morgen hatte ich die dicksten dunkelsten Augenringe überhaupt. Einen winzigen Moment erschrak ich vor mir selbst. Vor dem bleichen knochigen Mädchen im Spiegel. Dann verschwamm das Bild und ich sah wieder mich. Das fette kleine hässliche Mädchen. Ich hatte nur 500kcal gegessen heute, obwohl ich eine Stunde Rad anfahren und eine Dreiviertelstunde reiten hinter mir hatte. Morgen würde auf der Waage noch weniger stehen. Ich wollte nur noch in mein Bett. Mich einigeln nunmehr schlafen. Und dennoch lief ich zu den Mädels.

Der Sommer war auch in meinem Dorf endlich angekommen. Und ich genoss den Moment. Wie ich entspannt durchs Dorf lief, vorbei an den jetzt schon trinkenden Leuten beim dorffest welches gestern enden sollte ( ich hab noch nichtmal gefrühstückt und die trinken schon...) vorbei an Gärten und Wiesen vorbei an den Kühen. Sonne im Gesicht, ausnahmsweise mal nicht ganz so schlimm am Frieren. Die Tasche war schwer und an der Hüfte hatte ich blaue flecke von ihr auf dem Knochen. Aber die gute Musik auf den Ohren machte es wieder wett. Lauthals sang ich mit, anders kannte man mich hier sowieso nicht.

„Denn alle springen aus dem Fenster, und alle häng sich auf. Und die ganzen Optimisten sterben Tag für Tag aus. Ja alles geht zu Grunde und jeder kann es sehn, weil selbst die Optimisten auf den Fensterbrettern stehn"

Und ein solcher Text hinterlegt mit rebellischer provokanter energiegeladener Musik. Optimisten, mein neues lieblingslied. Ich bog um die Ecke und erblickte meine Mutter welche vom einkaufen zurück war, Glück gehabt dann musste ich das nicht mehr tun.

Und wieder lag ich hier, in meinem Bett welches sich nicht nach meinem anfühlte. Bis grade hatte ich alles wegstecken können. Wegsperren, überspielen und ablenken. Aber jetzt, wo ich um ein Uhr nachts hier lag in einem viel zu heißen stickigen Zimmer überkam mich alles. Der Hass, die Angst die Verzweiflung, die Machtlosigkeit und der Ekel. Vor allem. Vor mir, vor diesem Bett welche aso schrecklich unbequem und furchtbar war, vor diesem Haus welches so dreckig und chaotisch war. Vor den Menschen in diesem Haus die mir all das antaten. Vor jedem Gegenstand der auch nur einen Zentimeter falsch stand. Vor jedem krümel. Und vor allem vor mir. Und wie ich mich hasste! Wie ich mich ekelte! Wie wütend ich war! Und da liefen sie, die Tränen. Heiß und still. Und wütend wurde ich. Schmiss alles aus diesem hässlichen Bett außer einem decken Bezug und einem dünnen kissen. Schrie im Kopf was ich alles hasste. Wälzte mich hin und her. Und fand keinen Schlaf. Fand keine Ruhe. Und ich schluchzte als ich begriff das ich nichts tun konnte. Ich musste da jetzt durch. Das ist recovery. Essanfälle aushalten und dann so enden. Mit all den Gefühlen. Während ich vorher gebacken hatte ( natürlich verkackt was sonst passt ja zum Tag) und nach dem essanfall hysterisch die Küche ausgeräumt hatte. Alles hatte ich sauber gemacht. Aussortiert. Weggeschmissen. Aufgefüllt. Umgefüllt. Geputzt. Sortiert. Eingeräumt. Mama würde mich hassen morgen. Aber es hatte mich beruhigt! Für einen Moment hatte es das. Und dann musste ich durchs Haus laufen. Denn außer der Küche sah nicht schön aus. Und ich musste in dieses Zimmer. Chaotisch und dreckig. Stickig weil die kleine nie das Fenster aufmachte wenn sie schlafen ging. Und noch mehr Wut. Wieso musste ich das immer einstecken? Jetzt konnte ich nicht schlafen. Ich kann nur bei klarer Nachtluft schlafen, mein Fenster war immer ganzjährig auf. Tag wie Nacht. Und ich hatte es genossen! Aber man hatte mir ja alles genommen. Mein Zimmer und überhaupt. Und eine neue Welle Hass überkam mich und die Tränen liefen. Ich hasse es so sehr hier! Aber vor dem ausziehen hatte ich so große Angst... ich wusste nicht mehr wohin mit mir und meinen Gefühlen. Ich wusste nur dass ich da jetzt selbst durch musste. Und ich betete dass es besser wurde. Das dieses zwanghafte Verhalten aufhören würde. Dass ich wieder essen konnte und zwar mehr als nur knappe 500kcal pro Tag. Dass sie Wutanfälle aufhörten. Die panikattacken. Die Aggressionen und Nervenzusammenbrüche. Wenn es nicht mitten in der Nacht wäre würde ich jetzt Klavier spielen. Aber das war einseitig zu laut. Luna schlief auch schon und ich wollte sie nicht wecken. Ich weiß ja nicht wie viele Sunden Schlaf degus so brauchen. Erschöpft drehte ich mich zur Seite. Zum ersten Mal war mir grade nicht kalt. Und mein Gewissen weswegen das so war brachte mich fast um. Obwohl ich eigentlich gar nicht so viel gegessen hatte. Vielleicht kam ich jetzt heute auf insgesamt 1400 maximal. Also immer noch zu wenig. Trotzdem hatte mein Bauch gespannt und ich fühlte mich grausam. Ich würde zunehmen. Weil ich vorher noch weniger gegessen hatte nahm ich ja schon bei 500kcal täglich zu. Wenn auch immer nur wenige hundert Gramm. Ich wischte erschöpft meine Tränen weg und versuchte zu schlafen. Morgen war bestimmt alles besser..

Nie gut genug Where stories live. Discover now