7

91 9 12
                                    

"Lucyyyy!", rief es hinter mir und somit wurde ich bereits am Montag morgen genervt. "Claudyyyyy", erwiderte ich sarkastisch und drehte mich um. "Geh zwei Meter zurück und versuch's nochmal. "Boah mach mal nicht so nen Aufstand!", beschwerte sie sich zwar, aber da sie meinen Blick schon kannte tat sie es ohne weiteren Kommentar. "Okay lieber Lucas." Ihre überspielte Lieblichkeit war fast noch schlimmer. "Kann ich jetzt mein Handy haben? Ich war auch brav." Widerwillig händigte ich es ihr aus und musste zugeben, dass sie sich an alle Regeln gehalten hatte und auch brav ihren Lernstoff gepackt hatte. "Wie wäre es wenn wir uns ein bisschen unterhalten?" Eigentlich war sie bereits auf den Weg hinaus zu stürmen, als sie sich noch mal auf dem Absatz umdrehte und zurück taumelte. "Muss ich ja wohl, sonst gehen Sie mir ja weiter auf den Sack oder?" Zufrieden nickte ich ihr zu. "Obwohl muss ja Eierstöcke sagen. Von uns haben ja nur sie den Sack.", plapperte sie weiter und so revidierte ich meine Definition über brav im Zusammenhang mit Claudia. "Weißt du, manchmal ist es besser seine Gedanken für sich zu behalten." Ich wusste oft nicht ob ich sie mochte oder nicht, aber im Grunde war sie ein eigentlich nettes Mädchen mit einer verkorksten Geschichte. "Ich habe neulich eine neue Information bekommen."
Ich reichte ihr einen Zettel auf dem der Name ihres Onkels stand und weiter drunter das er inhaftiert wurde. Ihre Hände fingen an zu zittern, die Haut wurde blass und sie leckte sich gefühlt dutzende Male nervös über die Lippen. "Wie? Was ah.... Also....", stotterte sie und aus der frechen Göre wurde ein bitter weinender kleiner Haufen der unter Tränen nicht wusste wohin er mit sich sollte. "Du weißt ja wieso. Möchtest du nicht mit mir darüber reden?" Sie zitterte regelrecht und es tat mir ja schon wahnsinnig leid, doch musste ich sie so hart damit konfrontieren, andernfalls hätte sie weiterhin gemauert wie bei allen anderen Sitzungen. "Weißt du das er ganz viele Videos und Bilder auf seinem Computer hatte?" Sie riss die Augen auf, sprang vom Platz und starrte mich nur an. "Nein! .... Wie alt?", fragte sie und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. "Laut Polizei, also rein optisch, waren alle zwischen 2 und 5.. Du aber bist älter, als Einzige." Nachdem ich das erwähnt hatte, wieder mit Absicht, wurde sie wütend. So wütend, dass sie das Papier nahm und zerriss. "Ich hoffe der schmorrt in der Hölle! Denn sollen sie im Knast den Hals umdrehen! Der soll ... Er soll...so..." Aus wütenden Gebrüll wurde lautes weinen. Aus purer Verzweiflung brüllte sie fast schon unter Tränen und ließ sich zum aller ersten mal von mir berühren und weinte sich bitterlich an meiner Schulter aus. "Er wird definitiv so nie wieder draußen frei rumlaufen." Es dauerte eine Weile bis sie sich beruhigt hatte und ich sie zur Erholung wieder auf ihr Zimmer bringen ließ. "Darf ich morgen wieder kommen?" Hatte sie zuletzt gefragt und natürlich verschob ich so extra einen anderen Termin für sie - nur um an unserem Durchbruch des Traumas zu arbeiten.
Endlich kam ich an dieses Kind heran und war zuversichtlich endlich der Wurzel all ihrer Aggressionen und sonstigen Problemen auf den Grund gehen zu können. Und während ich noch erleichtert über diesen einen Erfolg war klopfte es schon wieder und mein nächster Termin trat herein. "Darf ich?"
Isabelles Vater stand vor mir und hatte selbst einen Termin für heute gemacht. Irgendwas lag ihm auf dem Herz und da war ich nur all zu offen für. "Danke, dass ich so schnell hier her kommen durfte.", fing er an und setzte sich. Ich holte mir in dessen schon ihre Akte hervor. "Wissen sie ich bin gekommen, weil ich gesehen habe das Isabelle vor einigen Monaten wohl an meinen Computer war. Also der Computer zeigt an wann welche Ordner geöffnet wurden und das muss sie gewesen sein." Etwas verwirrt sah ich diesen Mann an. "Und war der Inhalt so brisant?" Er nickte und schluckte heftig. "Dort ist eine PDF und sie hat sie wohl gelesen. In der steht das meine Frau nicht ihre richtige Mutter ist, sondern nur adoptiert hat. In einer anderen Datei hat sie gesehen das ihre richtige Mutter sie freiwillig abgeben hat." Ich dachte ich Fall aus allen Wolken und ärgerte mich jedes Mal, wenn Eltern meinen nicht mit der ganzen Wahrheit heraus zu kommen, sondern erst irgendwann mal antrudeln. "Sie wusste also absolut nichts davon... Verstehe... Und ihre Frau wollte es ihr auch nicht sagen, denke ich mal. Isabelle wird da wohl Fragen haben. War das vor ihrer starken Gewichtsabnahme?" Er überlegte kurz und nickte dann anschließend. Nachdem er weg war zog ich meine Pause vor und schaltete meinen Fernseher an. Jins PR Konferenz mit dem Gegner Malik stand bevor und als ich einschaltete waren sie bereits beim wiegen gewesen und nun wurden sie mit Fragen bombardiert. Wie üblich das übliche Blabla mit Provokationen und auch Sprüche unterhalb der Gürtellinie waren all gegenwärtig. Manchmal kam mir Jin wie ein ganz anderer Mensch vor, wenn er andere verbal dabei so aggressiv ins Visier nahm. Es machte den Eindruck, dass er keinerlei sanftmütige Seite hatte.
Nach der ganzen Fragen kamen noch unendlich viele Werbungen, unnötiges Gequatsche und noch mehr Werbung. Anschließend Ausschnitte von alten Kämpfen und Statistiken. Es würde noch eine ganze halbe Stunde dauern bis der Kampf gegen Malik anfing doch darauf zu warten war gerade nicht möglich und das Klopfen an der Tür riss mich auch schon wieder in die Realität das ich eigentlich am arbeiten war.
"Hallo. Ich hab gesehen, dass mein Vater hier war. Hat er was gesagt?"
Isabelle stand in der Tür und wartete bis ich sie hinein gewunken habe. Während sie sich setzt hätte man fast das Gefühl bekommen das ich außer ihr und Claudia keine anderen Patienten hätte. Doch die beiden waren selbst für mich besonders.
Ich klärte sie kurz auf und lehnte mich anschließend auf meine Tischkante direkt vor ihr. "Wieso wollte meine richtige Mama mich nicht? Wieso hat sie mich bei Papa gelassen? Sie muss mich hassen! Alle hassen mich, ich bin nicht gut genug. Meine Mutter sagt auch das ich nichts kann, außer hübsch sein. Ich bin nutzlos.", sprach sie mit zittriger Stimme und weinte los. Im nächsten Augenblick stürmte sie auf mich zu und warf mich mit einem Schwung gegen den Tisch. So zart wie sie auch war - Kraft hatte sie und durch meine anlehnende Position rutschte ich auch noch weg. Mühsam stützte ich den Ellbogen auf die Tischplatte und hob mich wieder in eine halbwegs aufrechte Position. Immer noch auf mir, mit fester Umklammerung, Isabelle die nicht so aussah, als würde sie mich los lassen wollen. "Na komm schon, lass mich los. Dann können wir auch normal reden." Sie schüttelte ihren Kopf hin und her, nahm ihn aber keinen Zentimeter weg von meiner Brust. "Bin ich denn wenigstens hübsch genug?", fragte sie und blickte anschließend hoch zu mir. "Lass erst mal los.", forderte ich während ich meine Arme aus ihrer Umklammerung fummelte. Ich drückte vorsichtig gegen ihre Schultern, doch sie hielt sich nur noch intensiver fest. "Nein nicht doch. Bin ich nicht gut genug? Aber ich kann es sein! Ich weiß sie mögen Männer aber ich könnte auch..." In dem Moment drückte ich etwas fester und löste ihren Griff um mich. "Hör auf damit. Das geht nicht! Aus vielerlei Gründen und außerdem ist das absolut keine Art für ein Mädchen wie dich. Für niemanden eigentlich. Du solltest vielleicht darüber nachdenken was du eigentlich willst. Also wirklich willst und versuch dabei völlig von den Erwartungen deiner Mutter weg zu kommen. Wohin willst du, auf was willst du hinarbeiten, was kannst du gut...und sowas." Nachdem sie sich von mir gelöst hatte sah ich direkt schon wieder Reue in ihren Augen. "Und was deine leibliche Mutter abgeht.... Da sollten wir deinen Vater vielleicht mit einbeziehen.", sagte ich und milderte ihr schlechtes Gewissen damit ab, dass ich die Hände an den Schultern ließ und ganz leicht auf und am fuhr. Nachdem sie sich endlich gefasst hatte schickte ich sie zurück auf ihr Zimmer und kaum hatte ich drei weitere Termine abgearbeitet war es schon Zeit für meinen Feierabend. Kaum schloss ich meinen Laptop und stopfte ihn in meine Tasche, da vibrierte mein Handy. Die Prüfungstermine der Uni waren raus und bei einem kurzen Blick drüber wurde ich nervös. So weit weg waren sie nicht mehr, auch wenn ich mich halbwegs vorbereitet fühlte. In den letzten Tagen lernte ich nicht wirklich.

Live• AgainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt