4. Kapitel

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Der aromatischen Duft der Suppe ließ ihre Mägen knurren. Linda saß neben Thorin und Gandalf, gerade stellte Bombur unter ausufernden Lobeshymnen der Versammelten einen großen Topf auf den Tisch.

Rasch waren die Teller gefüllt und die Zwerge schwiegen endlich, da sie sich nun ihre Bäuche vollschlugen. Sie hatten es sich wahrhaftig verdient. Die vielen Verletzten der Schlacht zu pflegen erschien eine zeitintensive Aufgabe, doch auch die anderen hatten es nicht leichter.

Der Rest der Gemeinschaft hatte sich am heutigen Tage daran gemacht, die Küche, in der seit geraumer Zeit bereits gekocht wurde, zu sichern. Zu besichtigen und anschließend die Schwachstellen zu reparieren, die lebensgefährlichen Unfallherde.

Erst nach den Berichten der erfahrenen Bergleute wurde Linda klar, wie gefährlich sie alle gelebt hatten. „Der Holzboden war voller Löcher, die Holzwürmer hatten anscheinend siebzig Jahre gehabt, um Tunnel zu graben“, war Bofurs Kommentar gewesen.

Der Spielzeugmacher zwinkerte ihr just in jenem Moment zu. Sie hatten noch nicht reden können, doch auch er sah kaum verändert aus, äußerlich. Was die Schlacht und das Töten mit einem im Inneren gemacht hatten, das konnte Linda nicht sagen. Nicht in dieser herzlichen Atmosphäre.

Ihr Gegenüber saßen Fíli und Kíli, die sie beide freudig begrüßt hatten, sich doch dann wieder ihrem geflüsterten Privatgespräch zugewandt hatten. Aus ihrem unauffällig-auffälligen Seitenblicken auf das Geschwisterpaar Glóin und Óin reimte sich das Mädchen eine Lösung zusammen.

Das Essen war nicht schlechter als auf der Reise, eher noch besser. Die Frau kratzte einen letzten Löffel aus und ließ sich von dem rothaarigen Zwerg eine weitere Kelle auftun. Mit dem Leeren der großen Schüssel nahm die Unterhaltung wieder an Lautstärke auf.

„Gut, dass du wieder Hunger hast“, brummte der Zauberer.

Linda nickte und lächelte.

Mithrandir senkte seine Stimme dezent. „Die Zwerge meinten, dass du heute das erste Mal wieder auf den Beinen bist. Kann ich dir irgendwie helfen? Brauchst du bestimmte Dinge?“

Kurz überlegte die Schwarzhaarige. „Nein, aber danke. Óin und auch Bilbo haben mir viel berichtet, alle waren immer total hilfsbereit, ich werde allerdings wohl bald auf dein Angebot zurückkommen, wenn ich es brauche.“

Mit einem unleserlichen Ausdruck in den Augen kümmerte sich der Spitzhutträger wieder um seinen Suppenteller. Er beobachtete genauso wie sie die beiden jüngeren Durins, wie Linda feststellte. Sie wollte ihn gerade fragen, was er denn während und nach der Schlacht getan hatte, als Thorin aufstand und alle Kommunikationsversuche ins Leere laufen ließ.

„Danke für eure heutige Arbeit, und danke auch für das köstliche Essen, Bombur“, er neigte kurz den Kopf. „Gute Nacht allerseits. Doch vorher ist noch eine wichtige Besprechung zu führen, kommt bitte nun mit.“ Er sah die bereits Angesprochenen an. Linda fügte sich ihrem Schicksal.

Die Rückweg war unspektakulärer, wenn denn der Einsame Berg unspektakulär sein konnte. Dieselben eindrucksvollen Kunstwerke und immer noch dieses gigantische Uhrenblatt in Thorins Halle.

Sie fanden das Haus genauso auf, wie der König es überhastet verlassen hatte. Weiter hinten, wo sie vorhin gar nicht hatte hinsehen können, gruppierten sich einige zufällige ausgesuchte Sitzgelegenheiten um einen kalten Kamin. Thorin ließ sich in den größten Ohrensessel sinken.

„Also, Linda“, sagte er, als alle ihn erwartungsvoll anblickten. „Was hast du uns zu sagen?“

„Ich sagte, ich habe euch angelogen und das ist wahr. Ich habe verheimlicht, wer ich wirklich bin, aber alles um mich zu schützen, und noch wichtiger, um euch zu schützen. Aber lasst mich am Anfang anfangen.“

Sie spürte die Last der Blicke auf sich drücken. Fíli, der sie das ganze Abendessen über gemieden hatte, und die Tage davor, so ehrlich musste sie sein, auch. Thorin, der eine Antwort erwartete, die ihn zufrieden stellte. Der Zauberer, der noch das Meiste der Wahrheit wusste.

„Ich berichtete euch, dass ich von einer anderen Welt komme, das war nie falsch, doch meine Welt ist so drastisch anders, dass kaum zu beschreiben ist. Und das Wichtigste: Man kennt dort eure Geschichten.“

Linda machte eine Kunstpause. Sie versuchte herauszubekommen, ob die anderen verstanden hatten, was sie sagte. Sie hatte gerade zugegeben, dass sie die Zukunft kannte, gekannt hatte.

„Ja, ich habe Mittelerde ins Genaueste erforscht, bevor ich wusste, dass es existierte. Die Valar riefen mich, das ist richtig, doch wusste ich bereits vorher, worum es in der Geschichte der Rückeroberung des Einsamen Berges ging, welche Gefahren dort lauerten. Ich kannte jeden einzelnen von euch vorher. Und ich wusste, dass dieses Abenteuer erfolgreich verlaufen würde.“

„Nun, zum größten Teil. In jeden Abschriften eurer Geschichte geht sie gleich aus, Smaug wird vernichtet, aber dann kommt die Schlacht der fünf Heere. Und anders als heute, anders es in der Wirklichkeit sind es nicht alle dreizehn, mit mir vierzehn Gemeinschaftsmitglieder, die die Schlacht überleben.“ Sie kämpfte mit den Tränen.

„Verdammt, ich wusste, dass ihr sterben würdet.“ Linda gestikulierte in die Richtung der drei Durins. „Ich habe euch sterben gesehen, mehrere Male. Und die ganze Zeit, die ganz Zeit in diesem Berg plagen mich die Alpträume davon.“

Das Mädchen war nicht länger ruhig. Sie schrie, sie tobte, sie weinte. Innerlich. Warum reagierten die anderen nicht? Was machte sie falsch? Wenn sie ihr nicht glaubten und sie nicht verstanden... Sie hatte Angst vor die Reaktion. Ihre Herz raste.

„Und ich wusste, dass es meine Aufgebot war, das zu verhindern. Ihr wart tot, als ich auf dem Rabenberg ankam. Die Valar haben mich gesegnet. Ich konnte euch ins Leben zurückholen. Keine Ahnung, wieso oder warum. Aber das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“

Still ließ sie die Tränen weiterrinnen. Niemand sonst wagte ein Wort zu reden.

Mit belegter Stimme fuhr Linda fort: „Dann habe ich geschlafen, und ihr wusstet nicht, ob ich zurückkommen würde. Ich war noch einmal bei den Valar. Sie haben mir einen weiteren Segen gegeben. Ich bin jetzt ein Zwerg. Nun, ich werde einer sein, in der Spanne von zwei Jahren.“
Sie schwieg. Ihre Blick durchbohrte jeden einzelnen.

„Das ist meine Geschichte. Es tut mir leid, dass ich euch angelogen habe.“
Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass Balin anfing, auf Khuzdul zu reden. Überrascht beobachtete das Mädchen die aufkeimende Diskussion auf Zwergisch. Der weißhaarige Zwerg führte das Wort, redete mit beherrschter Stimme auf die anderen ein.

Thorin und Dwalin sagten kurze, prägnante Worte. Oder Sätze, das wusste sie ja nicht. Kíli sprach weitaus emotionaler, doch ob zu ihrem Gunsten oder nicht, keine Ahnung. Fíli sagte kein Wort.

Bilbo reichte es langsam. „Ich finde ja“, sprach er laut genug, um die Zwerge zu unterbrechen, „dass wir uns alle bei Linda bedanken sollten. Ohne sie hätten wir drei unserer Freunde verloren.“

Warmherzig sag er sie an und das junge Mädchen wusste in diesem Moment, dass er ihr vergeben hatte. Sie lächelte durch ihre tränenverquollenen Augen.

„Und ich sehe ihre Gründe, warum sie diese Wahrheit solange für sich behalten hat. Manche Geheimnisse benötigen solcherlei Geheimhaltung, egal, wie schwer es uns fällt“, schloss er. Ein scharfer Seitenblick auf die Khazâd mitinbegriffen.

Unwillkürlich musste Linda grinsen. Sie sollte den Hobbit außerdem darüber unterrichten, dass sie um den Ring wusste und dass er ihn bitte noch lange für sich behalten sollte. Denn das war eine komplett andere Geschichte als diejenige, in die sie hineingeraten war.

Thorin räusperte sich. „Wir haben dir zu danken, da stimme ich unserem Freund zu. Dass du die Wahrheit gesprochen hast, erklärte ja einst die Waffe, die du bei dir trugest, und dessen Schmied wollen wir nicht anzweifeln. Genauso wenig deine Entscheidungen, die du daraufhin getroffen hast.“

Linda blickte ihn voll Dankbarkeit an. Ihr bedeutete es mehr als sie jemals in Worte fassen könnte, dass sich der König auf ihre Seite gestellt hatte und ihr Glauben schenkte. Er hätte sie genauso gut als Lügnerin vor die Tore Erebors werfen können, wo sie dann…

Aber das würde nicht geschehen. Das sah sie in seinen Augen, die sie respektvoll betrachteten, genauso wie in denen von Dwalin. Dessen Bruder meldete sich ebenfalls zu Wort: „Mein Kind, danke dir für diese Worte der Offenheit. Allerdings hätte ich noch einige Fragen, die da der Klärung bedürfen, hättest du Zeit, dein Ohr einem alten Mann zu leihen?“

„Immer doch, Balin.“ Die Frau lächelte.

Nun wartete sie nur noch auf die Reaktion der jüngeren Durinbrüder, weil alle anderen bereits gesprochen hatten. Kíli fing ihren suchenden Blick auf. Er lächelte.

Mehr brauchte es nicht, sie wusste genau, was ihr Freund sagen wollte, was genauso er nicht in aussprechbare Sätze fassen konnte.

Ihre Freundschaft stand über dieser ganzen, von vorne bis hinten komplizierten und überaus verschachtelten, Geschichte. Sie neigte dankbar den Kopf.

Und Fíli? Sie beäugte auch ihn abwartend. Doch mehr als sein Bruder zuvor, mehr als irgendjemand sonst hatte der mit seinen eigenen Gefühlen zu kämpfen. Sie sah es ihm an, weil er sie nicht ansah. Linda wartete.

Auch alle anderen warteten auf einen Kommentar des Kronprinzen. Mit einem gemurmelten Etwas auf Khuzdul in die Richtung seines Onkels erhob sich Fíli, schaute niemanden an und verließ den Raum.

Die Abenteurerin war – nun, nicht überrascht. Enttäuscht. Das Zuschlagen der Tür kroch ihr wie ein dunkler Schmerz durch den ganzen Körper. Was hatte sie erwartet? Ja, was hatte sie erwartet? Linda schalt sich selbst für ihre Naivität.

Traurig starrte sie in den kalten Kamin. Das war ihre eigene Schuld. Dennoch – es tat weh. Die Zurückweisung, das Ignorieren, dass er ihr kein einziges Mal in die Augen gesehen hatte. Sie war wirklich dumm gewesen.

Auf einmal spürte sie eine warme Hand auf der Schulter. „Komm, Linda, ich hab wirklich noch so einige Fragen, und ich schätze, du auch, oder?“ Balin strahlte sie förmlich an.
Müde erwiderte sie das Lächeln. „Gerne.“

Sie bemerkte kaum Kíli, der besorgt als Einziger die Tränen in ihrem Augenwinkel hatte schimmern sehen.



1585 Wörter, 28.10.2022

Ich hab euch nicht vergessen. Sorry für die späte Uhrzeit xD

Tochter der Fremden - Mittelerde-FFWhere stories live. Discover now