Tag 50115 - 18. Geburtstag - Erwachsen (Teil 1)

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Das Ticken der Uhr auf Annies weißem Nachtschrank schien unerträglich, als die Zeiger sich stetig auf die 12 zubewegten, gnadenlos, unaufhaltsam. Tick, tick, tick... Eine Minute war um. Noch vier Minuten bis Mitternacht. Das Mädchen kämpfte mit dem Kloß im Hals und kniff sich mit der freien Hand ins Bein, um die Tränen in ihren Augen zurückzudrängen. In der anderen Hand hielt sie einen Vorschlaghammer, drehte den Holzgriff immer wieder in den schwitzigen Händen.

Es hatte eine gewisse Ironie, dachte Annie sich, sie hatte beinahe ihr ganzes Leben auf diesen Moment gewartet, dieser Moment, in dem sie endlich volljährig sein würde - und jetzt saß sie da, alleine in ihrem Zimmer, und wartete darauf, dass Roman kam, nur um ihn zu verlieren.

Noch drei Minuten. Annie stand auf und begann, in ihrem Zimmer nervös hin- und herzulaufen. Einige Umzugskisten stapelten sich in den Ecken, darin verpackt ihre Bücher, alte Kuscheltiere - und Bilder. Ganz unten in dem Karton mit der Aufschrift 'Kindheit', dort lag das Bild, das Annie von ihr selbst und Roman gemalt hatte, als sie 6 Jahre alt war, immer noch in ihrem Tagebuch von damals. Sie hatte das Bild dort eingeklebt, sodass es die erste Seite war. Die erste Seite eines Buches war immer etwas besonderes, und sie konnte sich nichts besondereres als Roman vorstellen, nichts, was sie so definierte wie er es tat.

Wird es ihm wehtun? Falls es überhaupt funktionieren sollte. Miss X war, da musste sie sich gar nichts vormachen, nicht die verlässlichste Quelle. Doch egal, was heute nacht passieren würde, Annie war sich bewusst, dass sie heute Abschied nehmen musste.

Zwei Minuten. Sie ließ sich zu Boden sinken, zog ihre Beine zu sich heran und bettete ihr Kinn auf ihre Knie. Sie durfte sich keine Tränen erlauben, sie musste jetzt stark sein, er konnte es nicht mehr für sie sein, nie wieder.

Der Grundstein eines Gebäudes hielt seine Seele, und ich halte den Grundstein unseres Hauses unter meinem Bett versteckt. Was geschah wohl mit einem Haus, wenn man seine Seele zerstörte? Die Seele, die an das Haus gebunden war?

Eine Minute. Die Luft wurde eng. Ich will nicht, dass du gehst, doch du bist schon fort. Annie glaubte, sich übergeben zu müssen. Jede Faser ihres Körpers schien dagegen zu streben, dass zu tun, was sie tun musste. Ich muss es nicht. Kurz streifte sie der Gedanke, und sie schämte sich dafür. Aber es würde alles so viel einfacher machen, einfach alles abschieben, es war nicht ihre Aufgabe, nicht ihr Fehler. Es war doch nicht ihre Schuld, oder? Oder wäre es anders gekommen, wenn er sie niemals kennengelernt hätte?

Ein Glockenschlag riss sie aus ihren Gedanken, und ihr Magen drehte sich um. Sie schmeckte Magensäure in ihrem Mund, zwang sich, zu schlucken. Sie hatte die letzten zwei Tage nichts gegessen. Noch ein Glockenschlag. Ihr kam es vor, als würden sie sie verspotten. 12 Glockenschläge um 24 Uhr.

Und dann war er da. Er sah genauso aus wie die letzten Jahre, dieselben eisblauen Augen, nun gefährlich glühend, dieselben verwuschelten Haare, derselbe schmale Mund, dieselben staubigen Schuhe. Sein ganzer Körper flimmerte statisch, die Lichter surrten und flackerten, er rutschte die Wand hinunter. „Warum bist du nicht bei deinen Freunden?" Er klang so kalt, dass Annie unwillkürlich den Griff um ihre Beine verstärkte. „Ich habe wichtigeres zu tun", erwiderte sie, doch sie wurde enttäuscht. Er fragte nicht nach. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Annie. Jetzt kannst du so tun, als wärst zu erwachsen." Annie glaubte, er habe ihr ein Messer ins Herz gerammt. Sie spürte ganz genau, wie es blutete. „Roman-", sie stockte. Bis jetzt hatte sie ihm gegenüber kein Wort erwähnt, die Angst schien ihr immer noch die Zunge zu verknoten. „Roman, du musst gehen." Es war raus, erschreckend leicht, es waren nur Worte. Mit weit aufgerissenen Augen wartete sie auf eine Reaktion, die Arme schlaff an ihren Seiten. Romans Augen schienen kaltes Feuer zu sprühen, doch er bewegte sich nicht. „Wie denn? Ich bin an dieses Haus gefesselt, gefesselt, bis ich nicht mehr ich bin." Er lachte rau, hämisch auf, die Haare in Annies Nacken richteten sich auf. „Und das ist bald, sehr bald. Du wirst schon sehen, vielleicht hole ich mir ja deine Seele." Sie wollte nur noch weinen. Gab es ihn wirklich nicht mehr? Der Junge, der versprochen hatte, sie immer zu beschützen, war er fort? Ich glaube, ich muss, ich muss.

„Ich weiß, wie", sagte sie.

Midnight SongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt