Tag 4384 - 16. Geburtstag

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An Annies 16. Geburtstag hatte Roman einen guten Tag, das merkte sie sofort. Als er in ihrem Zimmer auftauchte, flackerten seine Umrissen kaum und er schien ruhig zu sein. Auch dieses blaue Glühen, dass in letzter Zeit so oft an seinem Körper zu kleben schien, war verschwunden, sogar seine Augen hatten ihre normale grau-blaue Farbe, wie das Meer vor einem Sturm. Er lächelte sogar, und Annie lächelte unwillkürlich zurück. Ja, heute war ein guter Tag.

Roman ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Der alte Teppich war über das letzte Jahr verschwunden, genau wie das Einzelbett aus Eichenholz und die blütenförmige Lampe mit der Kordel, die früher über dem Bett hing. Stattdessen gaben ein großzügiges Ikea-Doppelbett und neues Graueichenparkett dem Zimmer einen helleren Charakter, einen erwachseneren. Eingehend betrachtete Roman Annie. Von Tag zu Tag bemerkte man die Veränderungen gar nicht, aber wenn er auf den Tag zurückblickte, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, dann realisierte er, dass nun alles anders war. Annie war kein kleines Kind mehr, sondern fast erwachsen – bestimmt 1,70 groß, ein ovales Gesicht mit markanten Kiefer- und Wangenknochen, schläfrige blau-grüne Augen, eine gerade Nase, die an der Spitze ein wenig hochgezogen wirkte. Lange blasse Wimpern, dichte, gerade Augenbrauen, ein paar Stufen dunkler als das mittelblonde Haar, dass ihr in verwuschelten Wellen über die Schultern fiel.

Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. „Willst du gar nicht mit mir reden?“, fragte sie belustigt und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Roman erwachte aus seiner Starre und grinste breit. Es erreichte seine Augen, bemerkte Annie und ihr eigenes Lächeln verstärkte sich nochmal. Kurz flimmerte seine Gestalt, dann lachte er kurz und sagte: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, du ungeduldiges Ding.“ Sie erwiderte nichts, machte nur Platz auf dem Bett, frisch mit grau-weißer Bettwäsche bezogen, und klopfte neben sich auf die Matratze. Das Lampe surrte leise, als sie ein wenig heller wurde – ein Zeichen für gute Laune, wie Annie bemerkt hatte. Er ließ sich neben ihr nieder, die Beine auf dem Boden und auf die Ellenbogen gestützt. „Und, irgendwelche besonderen Wünsche für das nächste Jahr?“ Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Keine, über die ich reden möchte“, antwortete sie und stützte ihr Kinn auf die Knie. Kurz schwiegen beide, dann gab Annie sich einen Ruck. Sie hatte Roman nie darauf angesprochen – auf das, was der alte Dämon ihr erzählt hatte. Als sie ihn am nächsten Tag wiedergesehen hatte, hatte sie sich einfach damit herausgeredet, sie wäre bei Freunden gewesen. Und dass sie natürlich nicht sauer war, dass er ihren Geburtstag vergessen hatte. „Und du?“, fragte sie. Es wurde dunkler im Zimmer, nicht viel, aber genug, um es zu bemerken. Roman blickte zu Boden. „Es ist nicht mehr viel über, was ich noch planen kann“, wich er aus. Enttäuscht runzelte Annie die Stirn. Offensichtlich musste sie direkter sein, wenn sie etwas brauchbares aus ihm herausbekommen wollte, doch sie wollte sich nicht streiten. Wenn es stimmte, was der Mann gesagt hatte, würde er abblocken, und wenn es nicht stimmte, würde er verletzt sein, dass Annie so von ihm dachte. Natürlich wollte sie nicht glauben, was der Dämon gesagt hatte, doch wie konnte sie sich sicher sein? Rasch durchforstete sie ihr Gehirn nach irgendetwas, womit sie ihn ablenken konnte. „Ich will dieses Jahr endlich geküsst werden“, platzte sie heraus. Roman sah sie mit großen Augen an, die Lichter flackerten. Innerlich verfluchte sie sich dafür. Nervös wechselte sie in den Schneidersitz, wandte sich ihm zu. „Weißt du, ich habe immer noch keinen Freund“, erklärte sie stockend, „Und ich bin jetzt 16. Ziemlich lächerlich, was?“ Ein zittriges Lachen folgte. Jetzt wurde es dunkler im Raum. Unsicher biss Annie sich auf die Lippe und steckte sich eine Strähne hinters Ohr, wartete angespannt eine Roman runzelte die Stirn und streifte die Schuhe ab. Kurz lenkte es Annie ab, sie hatte ihn noch nie ohne seine staubigen Schuhe gesehen. Er trug fadenscheinige schwarze Socken darunter.

Sanft legte er seine Hände auf ihre Oberarme und zog die Beine an, während er sich ihr zuwandte. „Wie kommst du darauf?“, fragte er, die Stimme ein wenig rau. Seine Hände fühlten sich kühl und ein wenig unwirklich auf ihrer Haut an, sie strengte sich an, nicht zu zittern. „Na ja, ich-ich bin schon spät dran“, murmelte sie, „Alle reden über ihre Beziehungen, über ihr-“ Sie brach kurz ab, dann fuhr sie verlegen fort: „Diese Blicke, wenn ich sage, dass ich noch nie einen hatte... Sie geben mir das Gefühl, dass sie denken, dass ich wertlos bin. Vielleicht bin ich das ja auch, mich will ja keiner.“ Ein Flimmern jagte über Romans Umrisse, wie das Störsignal bei alten Fernsehern, wenn man auf den falschen Kanal gegangen ist. Kurz schloss er die Augen, atmete tief durch, wie um sich zu beruhigen. „Lass dir nicht von anderen sagen, was du Wert bist“, presste er hervor. „Du bist doch nicht das, was andere von dir denken. Und du – wie viel du wert bist, wird doch nicht durch die Anzahl von Typen definiert, die 'was von dir wollen.“ Sie antwortete nicht, sah ihn nur mit großen Augen an. Für sie war er wie eine Konstante, ein Fels, jemand, an dem sie sich immer festhalten konnte. Auch wenn er selbst immer unsteter zu werden schien, sein Wesen blieb gleich. Ohne es zu wissen, veränderte er ihre Weltanschauung, durch genau solche Worte. Sie dachte, dass seine Worte ihr bestimmt ewig im Ohr bleiben würden, und sie wollte es auch nicht anders. 

Er dachte, dass er nicht wollte, dass sie sich an ihm festhielt. Er wollte nicht diese Person sein, die ihr alles zeigte, alles erklärte, denn er würde nicht mehr lange da sein. Und war er erstmal verschwunden, sei es durch eine Rettung oder durch den endgültigen Verlust seiner Seele, würde es sein, als hätte sie ihn nie gekannt. Wie soll sie sich denn an ihn erinnern, wenn sie nicht über ihn reden konnte? Und was würde denn dann aus ihr werden, wenn ihr Anker sich in Luft auflöste?

Frohe Weihnachten (oder wenn ihr es nicht feiert, schöne ferien) und ein tolles neues Jahr!

Love y'all,

Emily

Midnight SongWhere stories live. Discover now