Tag 2922 - 12. Geburtstag

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U N E D I T E D 

Roman saß allein auf dem Steg des Teiches am Ende des Gartens, die Füße ins Wasser getaucht. Er ließ seine Beine ein wenig baumeln, doch sie glitten widerstandslos durch das Wasser, ohne auch die kleinste Welle zu verursachen. Es war eine klare Nacht, klar genug, dass man die Sterne sehen konnte. Es schienen Millionen zu sein, und sie spiegelten sich auf dem ruhigen Wasser, wie ein kleines Stück Himmel, das zu Boden gefallen war. Ein leichter Wind ging durch das Buschwerk an der Seite des Teichs und brachte die Blätter dazu, leise zu rauschen. Es war lange her, dass er sich von etwas faszinieren hatte lassen, seine Gedanken hatte wandern lassen, doch nun merkte er, wie es ihn beruhigte. Wie die Faszination seine guten Seiten hervorbrachte und die schlechten tiefer in ihm versinken ließ, nur ein wenig, aber es war genug. Er atmete tief ein und aus, genoss das Gefühl der kalten, frischen Nachtluft in seiner Nase. Nur noch ein wenig länger, sagte er sich.

Der Klang von Schritten auf dem Holzsteg erregte seine Aufmerksamkeit, doch er drehte sich nicht um. Es war nicht schwer zu erraten, wer es war.

„Ich dachte, du bist bei deinen Freunden“, sagte er so neutral wie möglich. Er vernahm das Rascheln von Kleidung und einen dumpfen Klang, als sie sich neben ihm auf dem Steg niederließ und ebenfalls ihre Füße in den Teich baumeln ließ. Wie er war sie barfuß, doch als sie vorsichtig mit den Zehen über die Wasseroberfläche fuhr, kräuselte sie sich und das Abbild der Sterne verschwamm. „War ich auch“, sagte sie, und seufzte. „Es war einfach nicht das Gleiche ohne dich.“ Das brachte ein Lächeln auf Romans Lippen. Er löste endlich seinen Blick vom Teich und sah sie an.

Sie hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Aus dem kleinen Mädchen mit dem Teddybär, ohne den sie nicht schlafen konnte, war ein größeres Mädchen geworden, mit schmalem Gesicht und wachen, großen Augen. Als sie sein Lächeln bemerkte, erwiderte sie die Geste und schlug dann ihre Augen nieder, etwas, was sie erst kürzlich begonnen hatte zu tun. Sie begann unsicher zu werden, erwachsen zu werden, jemand anders zu werden. Vorher hatte es sie nie gestört, seinen Blick zu halten.

„Alles Gute zum Geburtstag, Annie“, sagte Roman und streckte einen Arm aus, um sie an seine Seite zu ziehen. Sie kicherte und löste sich schnell wieder aus seinem Griff. Er musterte sie kurz von oben bis unten und sah ihr dann gespielt grüblerisch in die Augen. „Was hast du mit denen allen gemacht, sie in den Schrank gesperrt und gesagt du musst mit deinem imaginären Freund reden?“ Ein Ruck kleiner Ruck ging durch ihren Körper, als sie kurz auflachte und schmunzelte, ein Funkeln in den Augen. Sie strich sich den überlangen Pony aus der Stirn – sie wollte ihn herauswachsen lassen, um nicht mehr so kindlich zu wirken. Dann rammte sie ihm den Ellenbogen in die Rippen. Roman zuckte und rieb sich die Seite. „Ich hab gesagt, dass ich auf's Klo muss. Ich hab also auch nicht viel Zeit, bis ich wieder reinmuss.“ Mit ernster Miene nickte Roman und sah wortlos zurück auf den Teich. Auch der Mond spiegelte sich in ihm, eine helle, weißliche Sichel im Dunkel des Wassers. „Tut mir leid, dass ich meine Freunde eingeladen hab“, murmelte Annie.

Erstaunt blickte Roman auf. Wieso sollte sie sich dafür entschuldigen, den Tag mit ihren Freunden verbringen zu wollen? Als er diese Frage äußerte, schüttelte Annie verlegen den Kopf und zog ihre Füße auf den Steg, um ihre Knie umklammern zu können. Sie ließ ihr Kinn auf ihnen ruhen, wich aber abermals Romans Blick aus. „Ich weiß nicht...“, sie zögerte, „Meine Geburtstage; das ist irgendwie unser Ding, weißt du? Es ist komisch ohne dich, und ich hab' irgendwie das Gefühl, dass es scheiße von mir war, dir einfach zu sagen, dass du nicht kommen sollst.“ Sie hielt es nicht mehr aus, seine Reaktion nicht sehen zu können, und blickte ihn an. Sein Gesicht zeigte keine Regung, nur seine Augen wurden weich. Er antwortete zwar nicht, aber Annie wusste, dass er es ihr nicht übel nahm. Einen Moment lang blieben sie beide still, dann rappelte Roman sich auf und bot Annie seine Hand an, die sie ergriff und sich hochziehen ließ. „Los, geh schon zurück“, forderte er sie in einem aufmunternden Tonfall auf, „Geh schon zurück. Lass dir nicht den Geburtstag vermiesen, nur weil du dir Sorgen machst wie's mir geht.“ Er grinste. „Vielleicht will ich auf mal eine Pause von dir haben.“ Er stupste sie spielerisch an, woraus sie ihn zurück schubste. „Ja ja, ich geh ja schon“, nörgelte sie, doch das Lächeln, das an ihren Mundwinkeln zupfte, verriet sie. Ein letztes Mal pikste sie ihm in die Seite, dann wandte sie sich zum gehen. Als sie sich schon um ein paar Meter entfernt hatte, rief Roman ihr nach. „Du kannst immer zu mir kommen, wenn irgendwas ist, das weißt du oder?“ Ihre Reaktion konnte er nicht sehen, aber er glaubte, dass sie lächelte. „Ja, klar!“, rief sie zurück. Dann war er wieder allein.

Plötzlich fegte ein kalter Windstoß durch den Garten, der das Gras zum Rauschen brachte und die Zweige bog, und Roman erschauerte, obwohl er schon lange keine Kälte mehr gespürt hatte. Eine kalte Hand schloss sich so fest um seine Schulter, dass es schon unangenehm war, und er drehte sich erschrocken um. Seine Augen verengten sich, als er niemanden sah. Der Wind nahm zu, brauste über die Wasseroberfläche und warf sie in Wellen, die stetig über den Rand des Teichs schwappten. Misstrauisch suchte er den Garten nach einem Anzeichen ab, dass er nicht allein war, doch es war nichts dort. Nur das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden.

Gerade, als er sich wieder abwenden wollte, erschien auf einmal eine hagere Silhouette am anderen Ende des Stegs. Sie lag komplett im dunkeln, man konnte nur die gekrümmten Schultern und den gesenkten Kopf erkennen, doch Roman erkannte ihn sofort. Sein gesamter Körper stand unter Spannung, als er dem Blick des Fremden erwiderte. Seine Augen schimmerten weiß im Mondlicht, und Roman wusste, dass sie grotesk nach innen verdreht waren.

„Was willst du?“, rief er, gerade leise genug, um keine Aufmerksamkeit im Haus zu erregen. Ein heiseres Kichern erklang als Antwort. Der Wind legte sich. „Nur eine kleine Erinnerung“, antwortete der Mann mit kratziger Stimme. „Ich wette, du fühlst es schon.“ Romans Augen schienen Funken zu sprühen. Seine Halsschlagader trat hervor und er ballte die Fäuste, doch er blieb stehen, wo er war. „Oder etwa nicht?“ Die Stimme hatte einen höhnischen Klang angenommen, und Roman biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Kiefermuskel zuckte. Ein Grollen erklang, und der Fremde blickte zum Himmel, an dem sich plötzlich dunkle Gewitterwolken ballten. „Oh, du fühlst es“, stellte der Mann belustigt fest. „Du weißt ganz genau, was passiert.“ Er kicherte wieder, und Roman schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Er musste sich beruhigen. Die Spannung löste sich aus seinen Muskeln, und er ließ die Hände wieder locker. Als er wieder die Augen öffnete, war der Fremde verschwunden, doch abermals ging ein Wind durch den Garten, nur eine leichte Böhe. Sie schien zu wispern, nicht auf die Art, wie es Wind nun einmal tut, sondern Worte. Deine Zeit läuft ab, Roman.

„Scheiße“, flüsterte Roman verzweifelt. 

 

Midnight SongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt