Epilog - Tag 65 nach der Kindheit

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Es war melancholisch, auf das kleine, geduckte Fachwerkhaus zurückzublicken, umgeben von Blumenbeten und riesigen Maschinen, die noch stillstanden. Der Termin war für 10 Uhr angesetzt, und mit
einem Blick auf ihre silberne Armbanduhr stellte Annie fest, dass die
Zeit schon gekommen war, jedoch die Arbeiten noch nicht begonnen
hatten. Mehrere Männer mit orangefarbenen Helmen standen auf dem Vorhof und schienen angeregt zu diskutieren, während sie sie unbemerkt von der anderen Straßenseite beobachtete.

Gestern hatte Annie ihr Abiturzeugnis erhalten, Schnitt 2,1. Sie war zufrieden damit, doch in der neuen Wohnung ihrer Mutter konnte sie trotzdem noch nicht schlafen. Ihre Mutter hatte sich zum Auszug aus dem Haus Annies Kindheit entschieden, als klar wurde, dass sie zum Studium die Stadt verlassen würde. Wahrscheinlich ging es zurück nach Dresden für sie – Lehramt studieren. Verantwortung
übernehmen. Die nachfolgende Inspektion hatte das Schicksal des
Fachwerks entschieden.

Annie wurde aus ihren Gedanken geschreckt, als eine helle Stimme sie von der Seite ansprach. „Entschuldigen sie bitte?" Verwundert drehte sie ihren Kopf. Eine brünette Frau, einige Zentimeter kleiner als sie selbst, blinzelte sie geblendet von der ironischerweise strahlenden Sonne an. Ihre strahlend blauen Augen stachen sofort aus ihrem Gesicht heraus und dominierten über der scharfen Nase und dem schmalen Mund, der zu einem höflichen Lächeln verzogen war. „Wissen Sie, ob dieses Haus heute abgerissen wird?" Sie deutete zum geduckten Häuschen hinüber. Die Haare hatte sie zu einem ordentlichen Knoten gesteckt und sie schien ungeschminkt zu sein.

Annie arrangierte die Träger ihrer Handtasche und nickte bestätigend. „Ja, die Arbeiten sollten gleich anfangen", antwortete sie so neutral wie möglich. „Wissen Sie vielleicht den Grund?", hakte die Brünette nach. Die Fragerei war Annie zwar suspekt, aber die Frau erschien ihr sympathisch – eine Aura von Wärme schien sie zu umgeben, und so verließ anstatt einer skeptischen Frage eine ehrliche Antwort ihre Lippen. „Das Bauwerk
ist marode", sagte sie, „Einige tragende Balken sind morsch, andere von Termiten befallen. Die Renovierungen wären zu aufwendig, sie würden sich nicht lohnen." Die Fremde nickte. „Vielen Dank", sagte sie, schien jedoch abwesend. Ihr Blick war auf das Haus
gerichtet. Eine der Maschinen setzte sich geräuschvoll in Bewegung.

Annie fasste sich zusammen. „Warum wollen Sie das alles wissen, wenn ich fragen darf?" Die Frau zuckte mit den Schultern. „Ich bin in diesem Haus aufgewachsen", erklärte sie, ohne Annies Blick zu erwidern. Dann lachte sie leicht. „Obwohl das natürlich einige Jahre her ist. Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich könnte mal dem Haus einen kleinen Besuch abstatten." Überrascht weiteten sich Annies Augen. „Ich auch", eröffnete sie ihr. „Wir sind gerade erst dort ausgezogen." Breit lächelte die Frau Annie an.

„Was für ein Zufall", bemerkte sie und streckte Annie ihre Hand aus. „Emma Belcourt", stellte sie sich vor und schüttelte kräftig die Hand der anderen. „Andria Calmer", erwiderte sie und lächelte zurück.

Kurz herrschte Schweigen zwischen den beiden, als
ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Abrissgeräte gelenkt wurde. Der Kran mit der Abrissbirne begann zu schwingen und traf auf die Hauswand, die wie Mürbeteig unter ihrer Wucht nachgab. Krachend brachen Wandstücke hinunter und trafen hart auf dem Boden auf. Annie zuckte zusammen, als der Blick auf ihr altes Zimmer freigelegt wurde. Tröstend legte Emma eine Hand auf ihren Arm.

„Es ist schon traurig, sich das anzusehen", sprach sie aus, was beide Frauen dachten. Irgendetwas an ihrer Präsenz schien Annie vertraut – sie schien alles ein bisschen weniger schlimm zu machen. Sie nickte bestätigend. „Andria – darf ich Sie so nennen?", fragend blickte Emma sie an und fuhr fort, als Annie nickte. „Andria, wir müssen nicht zugucken", sagte sie. Das Mädchen schluckte, doch gab ihr Recht. Sie wollte sich bereits verabschieden, doch die Ältere hielt sie auf. „Es mag zwar ein bisschen seltsam erscheinen", räumte sie ein, „Doch ich bin heute wegen dem Todestag meines Bruders hier, ich möchte sein Grab besuchen. Er ist auch in diesem Haus aufgewachsen." Sie machte eine Pause, und Annie traf es wie ein Schlag.

Midnight SongWhere stories live. Discover now