Tag 1096 - 7. Geburtstag

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Shit is starting to go down, bitches

Annies Augen leuchteten auf, als sie die Turmuhr vor ihrem Fenster 12 schlagen hörte. Gespannt saß sie im Schneidersitz in ihrem Bett und erwartete ungeduldig ihren Freund; den Ersten, mit dem sie ihren Geburtstag feiern wollte. Nachdem der letzte Schlag der Uhr verklungen war, passierte einen Moment lang gar nichts, doch das Mädchen zweifelte nicht einen Moment, dass er kommen würde. Sie dachte kurz an das Bild, das sie von ihnen beiden zusammen gemalt hatte, heimlich natürlich. Es zeigte sie in einem gelben Kleid, ein großes Lächeln auf dem Gesicht, an der Hand von Roman in seinen üblichen zerrissenen, leicht schmutzigen Klamotten. Während sie es gemalt hatte, kam ihr der Gedanke, ihm etwas anderes zu malen; doch dann wurde ihr klar, dass sie sich ihn nicht in Jeans und T-Shirt vorstellen konnte. Sie kannte ihn nur so, wie er jetzt war, und es fiel ihr schwer zu glauben, dass er ein Leben vor dem Allen hatte. Das Bild lag sorgfältig versteckt in ihrem Tagebuch, auf der ersten Seite. Es stand noch nichts darin. Sie wollte sich die erste Seite für etwas Besonderes aufheben. Die erste Seite eines Buchs ist immer etwas Besonderes, hatte ihre Mama gesagt.

Annie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Roman sich vor ihr materialisierte, ein breites Lächeln auf dem Gesicht und einen roten Luftballon in der Hand. Sogar seine zerrissene schwarze Hose wirkte weniger staubig als sonst.

„Happy birthday to you“, begann er zu singen, doch Annie unterbrach in lautstark. „Stopp!“

Er klappte den Mund zu und sah sie verwundert an. „Was ist?“, fragte er, ein wenig wie vor den Kopf geschlagen. Seine Geschwister hatten es immer geliebt, wenn sich morgens die ganze Familie um ihr Bett versammelte und ein Geburtstagslied für sie sang, auch wenn es natürlich ein anderes war. „Du kannst einfach nicht singen“, stellte Annie fest, als wäre es selbstverständlich. Als sie seinen gespielt gekränkten Blick sah, streckte sie ihm frech die Zunge raus. Roman gluckste in sich hinein. „Ich glaub's ja nicht, so klein und schon so fies“, ärgerte er sie; er wusste, wie sehr sie es hasste als 'klein' bezeichnet zu werden. „Ich bin nur ehrlich“, verteidigte Annie sich, konnte ein Kichern jedoch nicht unterdrücken. Auch wenn sie sich insgeheim über seine Worte ärgerte, konnte sie sich nicht gegen das Lächeln wehren, dass er ständig auf ihre Lippen zu zaubern schien. „Alles Gute zum Geburtstag, Annie“, sagte er nun, einen treuherzigen Ausdruck in den Augen. Er ließ sich neben Annie aufs zerwühlte Bett fallen, umarmte sie und drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange, bei dem das Mädchen das Gesicht verzog und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Widerwillig ließ er sie los und sie blickte ihn angeekelt an. „Iih“, sagte sie und wischte sich mit beiden Händen die Wange ab, die Roman geküsst hatte, „Jetzt fängst du damit auch schon an!“ Verschmitzt grinse Roman sie an. „Gibt es da etwa einen Jungen, von dem du mir erzählen willst?“, fragte er und wackelte mit den Augenbrauen. Annies Augen weiteten sich, dann wurde sie rot und versteckte sich hinter ihren Händen, sodass nur noch ihr verwuschelter Lockenkopf mit dem überlangen Pony sichtbar war. „Nein“, murmelte sie entrüstet in ihre Handflächen hinein. Als sie keine Antwort bekam, verschob sie ihre Finger so, dass sie durch sie hindurch blinzeln konnte. Roman sah sie erwartungsvoll an, die Schnur des Luftballons immer noch fest im Griff. „Willst du den mir noch geben?“, lenkte sie von Thema ab, und Roman grinste, er hatte sie sofort durchschaut. Trotzdem reichte er ihr den Luftballon, den sie gewissenhaft dankend annahm. „Er stammt zwar aus eurer Küche“, verriet Roman ihr, „Aber das muss deine Mama ja nicht wissen.“ Kurz dachte Annie über seine Worte nach. Deshalb hatte er sich also verspätet! Erst war sie ein wenig enttäuscht, dass er ihr nichts Richtiges geschenkt hatte, doch dann kam ihr ein Gedanke. Woher sollte er ein Geschenk nehmen? Kaufen konnte er um Mitternacht schlecht eins, er hatte doch auch gar kein Geld. Konnte er nicht seine Familie fragen?

„Kann ich dich mal was fragen?“, platzte Annie heraus, doch Roman erwiderte ausweichend: „Du hast meine Frage aber auch noch nicht beantwortet, Annie.“ Annie seufzte und schob sich eine dunkelblonde Strähne hinters Ohr; eine Geste, die seltsam erwachsen wirkte. „Ich meinte Onkel Paul. Er meint, jetzt, wo ich ein großes Mädchen bin, muss ich behandelt werden wie eine Lady oder so. Ich glaube, er meint damit, dass er jetzt immer meine Backe abschlabbern muss“, erklärte sie mit einem leidenden Gesichtsausdruck, womit sie Roman zum Lächeln brachte. „Das heißt Wange“, erinnerte er sie, doch sie winkte nur ab, wie eine Erwachsene.

„Jetzt musst du aber auch auf meine Antworten!“, forderte Annie ihn ungeduldig auf und ließ den Luftballon los. Er kam mit einem leisen 'Tock' auf dem weißen Teppich auf. „Ist ja gut“, meinte Roman belustigt, „Was willst du denn wissen?“

„Wo ist deine Familie?“

Stille.

Romans Augen waren geweitet, seine Gesichtszüge entgleist. Er war von ihrer Frage komplett überrumpelt, fieberhaft suchte er nach einer Antwort, irgendetwas, was nicht mehr Fragen aufwerfen würde, die er nicht beantworten konnte und wollte.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich langsam, „Aber sie haben einmal hier gewohnt, hier in diesem Haus.“ „Wirklich?“ Annie wirkte beeindruckt. „Sind sie ausgezogen und haben dich hier gelassen? Konnten Mama und ich deswegen hier rein?“, hakte sie sofort nach, und Roman fühlte sich hilflos; er wusste nicht, was er tun sollte. Sie ist noch zu jung, dachte er verzweifelt. Scheiße, scheiße, scheiße! „Das ist schon lange her“, sagte Roman ausweichend. Annie öffnete gerade den Mund, um weiter zu fragen, doch er unterbrach sie. „Ich hatte 4 kleine Geschwister, weißt du“, erzählte er rasch. Es konnte nicht groß schaden, wenn sie das wusste, redete er sich ein. „Eine, Maddie, hat mal in deinem Zimmer gewohnt.“ „Echt?“ „Echt.“

Einen Moment kehrte wieder Schweigen ein, Annie hatte inzwischen gemerkt, dass ihr Freund irgendwie nicht über seine Familie reden wollte, auch wenn sie nicht wusste, warum.

 „Weißt du auch, wie alt ich geworden bin?“, hakte sie irgendwann spielerisch nach, als sie die Stille nicht mehr ertragen konnte. Er schüttelte den Kopf, doch natürlich wusste er es. „Sag es mir“, forderte er sie auf, und sie lächelte. „Ich bin jetzt schon sieben!“ Roman schenkte ihr ein Lächeln, doch zum ersten Mal war es nicht echt. Er blickte zu Boden. Zwei seiner Schwestern hatte er nicht mehr dieses Alter erreichen sehen.

Midnight SongWhere stories live. Discover now