Tag 731 - 6. Geburtstag

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„Halt doch mal still“, befahl Roman, „und stell dich nicht auf die Zehenspitzen!“ Konzentriert hielt er mit einer Hand waagerecht ein Buch auf Annies Kopf, die kerzengerade und grinsend am Türrahmen stand, mit der anderen malte er mit einem am Ende angekauten Bleistift einen kleinen Strich auf das Holz, genau dort wo die untere Kante des Buchs anstieß. „Fertig“, verkündigte er und zog das Buch zurück, und sofort sprang Annie unter dem Türrahmen hinweg und betrachtete den Strich kritisch. „Und wie groß bin ich jetzt?“, fragte sie ungeduldig und folgte Roman durch Zimmer, als er den Bleistift sowie das Buch auf ihrem Schreibtisch ablegte. „Wir brauchen ein Maßband“, erklärte er ihr, als sie ungeduldig an seinem Ärmel zupfte. „In der Küche ist eins“, antwortete Annie und legte den Kopf in den Nacken, um Roman in die Augen sehen zu können. „Aber das ist doch neben Mamas Zimmer, ich kann da nicht lang ohne sie aufzuwecken.“

Einen Moment überlegte Roman, dann machte sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Du hast mich doch mal gefragt, warum ich gar keine Geistersachen mache“, erinnerte er das kleine Mädchen, und sie nickte verwirrt. „Jetzt pass mal auf!“ Immer noch grinsend lief er auf die Tür zu, völlig lautlos. „Wie machst du das?“, fragte Annie verwirrt, als er kurz vor der Tür stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Er zuckte nur mit den Schultern, machte einen Schritt rückwärts – und verschwand. Einen Moment lang starrte Annie mit großen Augen auf die Tür, dann fing sie sich und rannte dorthin, um am Türknauf zu gehen und in den Flur zu sehen. Aus ihrem Zimmer fiel ein Streifen gelbliches Licht auf den Flur, der ihn genug erhellte, um alle Konturen sichtbar zu machen. Sie wandte ihren Kopf nach links - nichts. Sie wiederholte das Gleiche auf der rechten Seite, sah sich mehrmal im Flur um, doch er war vollkommen leer. Verwirrt wandte sie sich um und ging zurück in ihr Zimmer, wo sie die Tür so leise wie möglich hinter sich schloss. Sie versicherte sich noch einmal, dass sich wirklich niemand außer ihr in dem Zimmer befand, dann ließ sie erschöpft die Schultern hängen und schlurfte zum lila-kariert bezogenen Bett, um sich mit geschlossenen Augen darauf fallen zu lassen. Sie würde es Roman nie sagen, doch es war anstrengend für sie, so lang aufzubleiben. In der Schule war sie ständig müde und schlief im Unterricht ein, an den Nachmittagen hatte sie oft nicht die Energie, mit ihren Freunden zu spielen.

Ihre Klassenlehrerin hatte sich bereits besorgt an ihre Mutter gewendet, gefragt, ob sie sich einen Grund für Annies Energielosigkeit vorstellen konnte. An diesem Abend war Marissa zu ihr ans Bett gekommen und hatte sie gefragt, was los war, warum sie denn so müde sei. Annie antwortete nur, sie wisse es nicht, und hat alle weiteren Fragen ignoriert. Marissa konnte nicht anders, als zu denken, es wäre ihre Schuld. Vielleicht machte sich Annie Gedanken über ihren Vater, vielleicht war sie nicht genug, eine schlechte Mutter. Diese Nacht, nachdem Roman verschwunden war, hat Annie ihre Mama leise weinen gehört, als sie auf Toilette gehen wollte. Sie hatte sich schuldig gefühlt und einen dicken Kloß im Hals bekommen, aber sie wollte Roman nicht enttäuschen. Er freute sich immer so, wenn er sie sah. Also blieb sie öfter wach, als sie sollte, und schlief die Nächte nur durch, wenn ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen, ohne dass sie es bemerkte. So wie jetzt.

„Buh!“

Annie riss die Augen erschrocken wieder auf. Roman hielt ihr mit einem breiten Grinsen eine mitgenommen aussehende Rolle Maßband unter die Nase, die Sorte, die man zum Bauen benutzte. „Hab's gefunden“, verkündete er fröhlich. „War das geisterhaft genug?“ Das kleine Mädchen nickte mit großen Augen, die Müdigkeit war vor Schreck wie verflogen. „Kannst du dich auch unsichtbar machen? Und durch Wände gehen?“, fragte sie eifrig; ihre blauen Augen funkelten vor Begeisterung. „Nicht so viele Fragen auf einmal“, protestierte Roman lachend, doch ein Schatten huschte über sein Gesicht, zu flüchtig, als dass Annie es bemerken könnte. „Komm, jetzt gucken wir wie groß du bist.“ Er nahm sie an der Hand und zog sie mit sich zum Türrahmen. Dort angekommen zog er das Band ein wenig aus der Plastikhülle heraus und reichte Annie das mit einem kleinen Metallhaken versehenen Ende. „Halt das unten am Türrahmen fest, ganz gerade und am Boden“, wies er Annie an, die ihm gehorchte. Sie hatte nicht einmal gemerkt, wie Roman ihrer Frage ausgewichen war. Einmal hätte er ihr fast das gelbe Maßband aus den Fingern gezogen – er hatte gar nicht bemerkt, wie kräftig sein Ruck dem kleinen Mädchen vorkam -, doch sie klammerte ihre kleinen Finger fest darumt und schaffte es gerade noch so, das Band fest zu halten.

„Und?“ Neugierig blinzelte Annie durch ihren frisch geschnittenen Pony zu Roman hoch. Er ließ ihr Gesicht runder und kindlicher wirken. Roman lächelte über ihre Aufregung. Seine Schwestern waren genau so gewesen, besonders Daisy, die jüngste von ihnen. Ob sie wohl noch lebte?

Bestimmt. Wenn seine Mutter sicher war, war sie es bestimmt auch, redete er sich ein. Und für die Sicherheit seiner Mutter hatte er gesorgt. Es war eine schöne Illusion, und für den Moment tröstete sie ihn.

Annie machte ein ungeduldiges Geräusch, und Roman wurde aus seinen Gedanken gerissen. „1,20“, verkündete er. Annie begann zu strahlen und Roman lächelte zurück, auch wenn er selbst merkte, das es gezwungen wirkte. Annie jedoch nahm es nicht wahr.

„Du bist ein großes Mädchen geworden, Annie“, sagte Roman nachdenklich, während er das Maßband zurück in seine schwarze Plastikhülle schnappen ließ. „Du stellst so viele Fragen.“

Midnight SongWhere stories live. Discover now