Tag 1158 - Kleine Sünde

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U N E D I T E D

Die Turmuhr schlug Mitternacht. Zwölf Mal ertönte ihr voller, tiefer Klang, bis sie verstummte und die schlafende Stadt wieder in Stille dalag. Annie lag wach in ihrem Bett und wartete. Ihre Uhr tickte leise, als die Zeit langsam, aber sicher verging. Eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten... Sie begann, in Gedanken bis Tausend zu zählen. Sie hatte gehört, dass es einen wachhielt, wenn man seinen Kopf anstrengte. Doch obwohl sie dagegen ankämpfte, fielen ihr immer wieder die Augen zu. Bei 201 schlief sie ein.

Roman saß auf dem Vorsprung unter dem Ziffernblatt der Turmuhr und ließ die Beine baumeln.

Es war ja nicht so, als ob er fallen und sterben könnte, dachte er sich zynisch; ein Akt, der sonst so gar nicht zu ihm passen wollte. Er schob es auf den Ort, an dem er sich befand; zwar entgegengesetzt des Fachwerkhauses, das früher einmal sein zuhause gewesen war, doch er konnte seine Präsenz immer noch in seinem Rücken spüren. Früher hatte das gedrungene Gebäude in ihm nur warme Erinnerungen geweckt, doch nun rief es düstere Gedanken in ihm hervor. Gedanken an die Ewigkeit, die nun lange nicht so reizvoll vorkamen wie damals, als er noch so alt war wie sein Körper schien. Das war allerdings nicht der Grund, aus dem er von Annie fortgeblieben war. Das kleine Mädchen war ihm ans Herz gewachsen, ihre wissbegierige, unschuldige Art und ihr unbeschwertes Lachen; doch sogar ihm war aufgefallen, wie müde sie war. Sie ist noch ein Kind, sie braucht ihren Schlaf, dachte er.

Vielleicht würde es ihr auch so ein wenig leichter fallen, dachte er, wenn ich nicht immer um sie herum bin. Sie war seine kleine Sünde, die er sich aus purem Egoismus erlaubte. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen, allein zu sein. Und er brauchte sie, auch wenn sie davon noch keinen Schimmer hatte...

Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken daran, was er ihr antun werden musste.

Midnight SongWhere stories live. Discover now