Tag 365 - 5. Geburtstag

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Der 5. Geburtstag des kleinen Mädchens begann mit einer tristen, grauen Nacht. Der Regen prasselte unablässig auf die Erde ein, klopfte stetig gegen das einzige erleuchtete Fenster des niedrigen Fachwerkhauses am Kirchplatz. Donner grollte beständig durch das ansonsten stille Dorf, Blitze durchzuckten den Himmel. Es war ein Gewitter, bei dem jedes Kind angsterfüllt zu seinen Eltern ins Bett gekrochen wäre, doch sie hatte keine Angst. Sie war nicht allein.

Annie prustete erstickt bei dem Versuch, ihr Kichern zu unterdrücken, als Roman sie durchkitzelte. „Was wolltest du noch mal sagen?“, ärgerte er sie und ließ sie kurz Luft holen. Sie atmete ein paar Mal heftig ein- und aus, dann setzte sie zum antworten an: „Du musst-“ Weiter kam sie nicht, da der Junge, der vor ihr auf ihrem Bett kniete, sie wieder in den Bauch pikste. Sofort begann sie wieder wie verrückt zu röcheln, bis sie es irgendwann schaffte, den älteren Jungen, der so gar nicht erwachsen wirkte, wegzuschubsen. „Lass das“, kicherte sie und schnappte sich das kleine, flauschige Kissen mit einem Elefanten darauf, um es wie ein Schutzschild vor ihren Körper zu halten. Darauf setzte sie sich auf und sah aus dem Fenster, vor dem die Turmuhr gelblich leuchtete, dann betrachtete sie ihr Zimmer und verglich es in Gedanken mit dem Raum, in dem sie Roman das erste Mal begegnet war. Ein Jahr war inzwischen vergangen, und das Zimmer hatte sich deutlich verändert, war endgültig ihr Zimmer geworden. Die Wand war nicht länger kahl und weiß, sie hatte einen pinken Anstrich an den Wänden, an die ihr Bett grenzte. Über ihrem Schreibtisch hingen Fotos mit ihrer Mutter und Freunden und verschiedene selbst gemalte Bilder. Spielzeuge waren über den Raum verteilt und an der Decke hingen fluoreszierende Sterne, die in der Dunkelheit ihr sanftes, grünliches Licht ausstrahlten. Roman ließ sich neben dem kleinen Mädchen auf das Bett fallen und betrachtete ebenfalls nachdenklich die Sterne über ihnen. Plötzlich war Stille zwischen den beiden eingekehrt, abgesehen vom leisen Trommeln des Regens an der Fensterscheibe.

„Du musst singen“, sagte Annie dann irgendwann. „Hm?“, Roman schien von ihren Worten aus einer Art Trance gerissen zu werden. „Du musst singen“, wiederholte die kleine Blondine. Ihre Vorderzähne waren vollständig nachgewachsen und mit ihrer Zahnlücke war auch ihr kindliches Lispeln verschwunden. Langsam, aber sicher wurde sie älter, wurde Roman klar. „Für mich. Ich bin doch das Geburtstagskind.“ Sie grinste breit und ein Grübchen wurde auf ihrer rechten Wange, genau auf der Höhe ihres Mundwinkels. Roman lächelte ebenfalls, plötzlich von einer Welle der Zuneigung für das junge Mädchen erfasst. Einem spontanen Impuls folgen legte er einen Arm um sie und drückte ihren schmalen Körper an sich. Annie wandte sich schon nach wenigen Sekunden in seinem Griff hin und her, und so löste er ihn. „Du hast mich fast zerquetscht“, sagte Annie vorwurfsvoll und blickte ihm aus großen, blauen Augen ernst an. Roman schwieg kurz, dann wechselte er das Thema. „Was soll ich denn singen?“ „Heute kann es regnen“, befahl Annie mit leuchtenden Augen und setzte sich auf. Roman lachte seine in sich hinein. „Okay, aber ich bin kein guter Sänger, ich kann nichts versprechen“, warnte er sie, dann richtete er sich ebenfalls auf, wobei er die frisch bezogene, mit Pferden bedruckte Bettdecke zerknitterte, und begann zu singen.

Heute kann es regnen, stürmen oder schnei'n, denn du strahlst ja selber wie der Sonnenschein.“ Der Text passte wie angegossen, dachte Roman. In dem vergangenen Jahr hatte das kleine Mädchen, das plötzlich in seinem Zimmer aufgetaucht war, und seine fröhliche, neugierige Art kennen gelernt und stand ihr nun näher, als er es je wieder bei einem Menschen möglich gehalten hatte.

Heut' ist dein Geburtstag, darum feiern wir.“

Er konnte sich genau daran erinnern, wie er das Lied zum ersten Mal gehört hatte. Seine kleine Schwester war gerade geboren, und sein Vater hatte ihr als Geschenk eine Kassette mit Kinderliedern mitgebracht, die er günstig bekommen hatte – die Sänger darauf waren vollkommen unbekannt, doch das Geburtstagslied blieb irgendwie bei uns allen hängen.

Alle deine Freunde freuen sich mit dir, alle deine Freunde freuen sich mit dir.“

Sanft stieß Roman Annie den Ellenbogen in die Seite und hielt kurz inne, um ihr zuzuflüstern, das sie jetzt mit klatschen sollte.

Wie schön dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst.“

Wieder wanderten Romans Gedanken zu seiner Familie, wie sie an jedem von Maddies Geburtstagen dieses Lied gesungen hatten, in einem schiefen, aber herzlichen sechsstimmigen Chor.

Wie schön dass wir beisammen sind...“

Bis es irgendwann nicht mehr sechs Stimmen waren.

Wir gratulieren dem Geburtstagskind!“

Midnight SongWhere stories live. Discover now