Tag 431 - Schutz

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Mit einem stummen Schrei auf dem Lippen schreckte Annie aus dem Schlaf hoch, die Stirn schweißnass und die Augen angsterfüllt. So schnell sie mit ihren zitternden Fingern konnte, zog sie an der Kordel über ihrem Kopf und die Glühbirne in der blütenförmigen Glaslampe erwachte flackernd zum Leben. Das kleine Mädchen sah sich panisch im Raum um. Als ihr Blick auf Roman fiel, der mit besorgter Miene auf ihrer Bettkante hockte, entspannte sie sich sichtlich. Ohne zu zögern streckte sie die Hand aus und sie klammerte sich an sein weißes Hemd und zog es somit vollständig aus seiner zerfetzten schwarzen Hose heraus, doch Roman schien es nicht zu bemerkten. Während Annie sich zitternd um ihn herum wand, strich er ihr beruhigend übers Haar, die Stirn gerunzelt. „Hey", sagte er, „Scht, alles ist gut. Es war nur ein Traum." Sein Tonfall war weich und ruhig, und nach ein paar Minuten hörte die kleine Blondine, deren Haare vom Schweiß dunkel gefärbt waren, auf zu zittern und setzte sich auf, um auf Romans Schoß zu klettern. Dieser schlang die Arme um sie und rückte auf dem Bett zurück, sodass er mit dem Rücken an die Wand lehnte. „Hey", murmelte Annie schwach, erschöpft von den vorigen Ereignissen. Roman strich ihr wieder durchs Haar, dann fragte er: „Hattest du einen Albtraum, Annie?" Als sie zur Antwort nickte, setzte der Junge wieder zum Sprechen an. „Willst du", er stockte unsicher, „Willst du mir vielleicht erzählen, was du geträumt hast? Danach wird's besser, wirklich!" Seine Worte schienen ihr Sicherheit zu geben, und so fing sie an zu erzählen.

„Weißt du, warum wir hierhin gekommen sind?", begann sie, und Roman schüttelte den Kopf, bevor er sich besann - sie konnte ihn doch nicht sehen - und laut verneinte. „Mama wollte weg von unserem alten zu Hause. Sie sagt, dass es da böse Erinnerungen gibt. Was heißt das?", fragte sie, setzte sich auf und verrenkte ihren Nacken, um Roman ins Gesicht sehen zu können. Er überlegte einen Moment, dann sagte er vorsichtig: „Vielleicht.. vielleicht sind da Dinge passiert, die deine Mama am liebsten vergessen möchte. Weißt du, was ich meine?" Annie nickte, dann blickte sie wieder nach vorn, auf das von ihr gemalte Bild an der Wand, auf dem sie und ihre Mutter vor einen kleinen, mit braunen Strichen karierten Haus zu sehen waren. „Wir waren nicht immer nur zu zweit, Mama und ich", sagte Annie und ließ sich zurück gegen Romans Brust sinken. „Aber mein Vater war nicht immer nett zu Mama und mir, und dann hat Mama gesagt das er gehen soll. Es war so laut gewesen, sie haben ganz viel geschrien und ich hab mich in meinem Zimmer unter dem Kissen versteckt, weil sie so laut waren." Ein geschockter Ausdruck machte sich auf dem Gesicht des zerlumpten Jungen breit, und er zog das kleine Mädchen näher an sich heran. Ihr Vater, hatte sie gesagt, nicht Papa oder Papi, sondern Vater. Er fragte sich, was ein Mann tun könnte, um ein so junges, fröhliches Kind davon abzuhalten, ihn Papa zu nennen. „Und davon hast du geträumt?", hakte er nach. Er wusste, das Annie stark genug war, es ihm zu erzählen, es ihm anzuvertrauen. Ihre kleine Stimme klang fest und sicher, als sie davon erzählte, und Roman kam nicht umhin, sie zu bewundern.

„Jap", sie nickte, und ihre noch feuchten Locken wippten. „Am Tag, wenn ich spiele, vergess' ich meinen Vater fast", überlegte sie, „Aber Nachts, wenn ich träume oder wenn du nicht da bist, dann weiß ich wieder alles." Roman schloss kurz die Augen. Er wollte etwas sagen, irgendwas, doch er fand keine Worte für das, was er fühlte. „Hast du noch Angst?" „Nein", sagte Annie bestimmt und Roman öffnete überrascht die Augen. „Warum nicht?" „Du bist doch da", antwortete Annie, als wäre es offensichtlich. „Du passt doch auf mich auf." Sie drehte sich wieder zu ihm um, mit großen, bewundernden Augen, und Roman wurde schlagartig klar, welche Verantwortung er trug. „Du beschützt mich doch, oder?"

Roman lächelte leicht, auch, wenn seine Verantwortung scher auf seinen Schultern lag, hatte er dieses Gefühl vermisst. Das Gefühl, bewundert und gebraucht zu werden.

Er drückte einen kleinen Kuss auf Annies Haar. „Ich werde dich immer beschützen", versprach er.

Midnight SongWhere stories live. Discover now