Tag 2956 - Fremd

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Als es Mitternacht schlug, saß Annie mit stumpfen Augen im Schneidersitz auf ihrem zerwühlten Bett, ihr Kopfkissen fest umklammert. Sie hielt daran fest, als wäre es ein Schild, doch sie wusste nicht, wovor es sie beschützen sollte; vor äußeren Einflüssen oder vor ihrem Inneren, ihren Gefühlen und Gedanken? Was war gefährlicher, ein Gedanke oder eine physische Bedrohung?

Die Luft vor ihr flimmerte, und sie verstärkte ihren Griff um das Daunenkissen, als Roman vor ihr auftauchte. Er sah ganz normal aus, wie immer. Kein seltsames Glühen, keine toten Augen, kein elektrisches Surren. Nur ein durchschnittlich großer Junge mit zerrissenen Klamotten und müden Schläferaugen, die an den Winkeln ein wenig nach unten zeigten. Einen Moment herrschte angespannte Stille, als die beiden sich in die Augen sahen. Annie sah Müdigkeit, Reue und Zuneigung. Roman sah Trauer, Hoffnung und... Angst. In Annies Augen lag eine Spur Angst, Angst vor ihm. Er spürte einen Stich in der Brust, und hätte er noch einen Herzschlag, so würde er aussetzen. Unwillkürlich trat er einen Schritt auf sie zu und streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie jedoch wieder sinken, da er sah, wie sie sich gegen die Wand drückte, von ihm zurückscheute.

„Annie-", begann er, brach jedoch ab. Sie brach den Blickkontakt und fummelte an der Ecke ihres Kissens herum, und da wusste Roman, dass sie noch ein wenig Vertrauen in ihm haben musste. Jemanden, von dem man sich ernsthaft bedroht fühlt, lässt man nicht aus den Augen.

„Es tut mir leid", wisperte Annie, beinahe hätte er es nicht gehört. „Ich hätte Minna nicht mitbringen sollen. Ich glaube nicht, dass sie je wieder mit mir reden wird." Ihre Unterlippe begann zu bluten, als sie begann, darauf herumzukauen. Ein Seufzen erklang, und Annie sah gerade rechtzeitig hoch, um zu sehen, wie sich Roman auf den dreckig-weißen Teppich sinken ließ.

„Du verstehst es nicht. Du hast Glück, wenn sie nicht mehr mit dir redet, und du musst dafür sorgen, dass sie nicht redet." Verwirrt runzelte Annie die Stirn. Roman blickte zu Boden und begann, Flusen von dem Teppich zu lösen und zwischen seinen Fingern zu drehen. „Hör zu, du hast sie in Gefahr gebracht. Frag nicht, wovor, dass kann ich dir nicht sagen."

Annies Miene wechselte von verwirrt zu aufgebracht. „Ist das dein Ernst? Du ziehst - du machst so etwas und - Wie kannst du mir jetzt sagen, ich dürfte keine Fragen stellen?"

„Du verstehst nicht", wiederholte Roman, sein Gesicht verkniffen, als würde er Schmerzen haben. „Ich - ich bringe dich in Gefahr, mit meiner bloßen Präsenz hier. Ich kann nicht riskieren, noch mehr Leute da mit reinzuziehen."

„Eine besser Erklärung werd' ich wohl nicht bekommen, oder?", sagte Annie bitter und schnaubte, als er keine Antwort gab. „Hab' ich mir gedacht. Aber sag mir eins - was ist gestern passiert? Ich habe dich nicht mehr wiedererkannt, Roman. Und du hast Recht, ich verstehe es nicht. Früher bist du noch nicht einmal durch Wände gegangen, du hast überhaupt nichts geisterhaftes gemacht, und dann kam das? Du warst - du warst mir so fremd." Romans Augen glänzten verdächtig. Er ließ sein Gesicht in seine Handflächen sinken und atmete zitternd ein. In ihm tobte ein Tornado von Gefühlen und Gedanken - er konnte nicht mehr das eine von dem anderen unterscheiden. Dann hob er den Kopf wieder und sah in Annies Richtung, doch seine Augen fixierten nicht sie, sondern die Tapete neben ihrem Kopf. Es war leichter so.

„Es hat etwas damit zu tun, was ich bin", erklärte er ruhig, jede Spur eines Zitterns verschwunden, „Und wie ich dazu geworden bin. Bitte glaub mir, dass ich keine Kontrolle über das hatte, was gestern passiert ist. Meine Gefühle sind mit mir durchgegangen..." Eine Pause entstand. „Ich würde dir nie wehtun wollen." Seine Stimme brach. Und doch habe ich es getan, und ich werde es wieder tun.

„Roman", setzte Annie an, und sie ließ das Kissen sinken, um näher an die Bettkante rutschen zu können. „Warum erzählst du mir nichts? Du weißt alles über mich, und ich fast nichts über dich. Deine Familie, wo du herkommst, was mit dir passiert ist... Nichts. Warum vertraust du mir nicht?"

Du hast mein Vertrauen missbraucht, Annie. Ich habe dich nur um diese eine Sache gebeten, ich habe dich gebeten, dein Geheimnis zu bleiben, und du hast mich verraten, ohne zu wissen, warum ich das wollte." Eine einzelne Träne rann aus Annies Augenwinkel und lief über ihre Wange bis zum Kinn, wo sie hinuntertropfte und einen nassen Fleck auf ihrer Bettwäsche hinterließ. Plötzlich sprang sie auf, stolperte über ihre eigenen Füße, als sie sich in Romans Arme warf. Überrumpelt schloss er sie in eine Umarmung, mehr aus Instinkt als aus Überlegung, und strich ihr über das dunkelblonde Haar, während sie in sein Hemd schluchzte. „Es tut mir", ein Hickser entkam ihren Lippen, „so leid. Ich mach's nie wieder, ich schwöre. Bitte verzeih mir." Der letzte Satz kam halb erstickt heraus, teils weil er gegen Romans Brust gesprochen wurde, teils weil Annie keine Luft mehr bekam, so sehr weinte sie. Etwas in Roman schmolz, und er legte sein Kinn auf ihr Haar. „Natürlich", murmelte er, „Natürlich verzeihe ich dir." „Mach nie, nie wieder so was", heulte sie und drückte ihn noch näher an sich.

„Nie wieder", sagte er. Ich versuche es. Ich hoffe es., dachte er.

Midnight SongWhere stories live. Discover now