Kapitel 237

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Wincent

„Wincent?", forderte eine Stimme neben mir im nächsten Moment aber meine Aufmerksamkeit und ich wandte den Blick von meiner Schwester ab und sah zur Seite. Da standen zwei Frauen, ich schätzte sie auf etwa Anfang bis Mitte zwanzig, und sahen mich ein wenig schüchtern an. „Wir wollten nur mal Hallo sagen... und fragen, ob wir eventuell ein Foto machen können?", brachte eine der beiden dann freundlich hervor, während die andere nur lächelte. Ich lächelte zurück, überlegte aber gleichzeitig, was ich am besten sagen sollte. „Also eigentlich bin ich heute privat hier...", fing ich an, denn eigentlich hatte ich gerade keine richtige Lust auf Fotos, einfach weil die Gefahr bestand, dass sonst morgen direkt wieder jeder wüsste, dass ich heute hier war und Fotos gemacht hatte. Bevor ich weiterreden konnte, unterbrachen sie mich aber schon wieder. „Okay, alles gut, das verstehen wir total! Wir wollten dich jetzt auch nicht in eine unangenehme Situation bringen oder so, aber wir dachten, wir fragen einfach mal ganz lieb...", sagte die größere der beiden und lächelte mich ehrlich an, sodass ich ihr auch wirklich glaubte. „Das ist wirklich nicht böse gemeint, ich hoffe, ihr versteht das...", versuchte ich mich doch noch einmal zu erklären, es fiel mir einfach immer so schwer, nein zu sagen. „Ja absolut! Mach dir da wirklich keinen Kopf, wir verstehen und akzeptieren das! Und wir wollen euch auch gar nicht lange stören, genießt ihr mal eure Zeit zusammen." Daraufhin nahm ich sie beide einmal kurz in den Arm und machte sie damit auch ohne Foto glücklich, bevor die beiden sich wirklich umdrehten und an der Bar verschwanden. „Warum können nicht alle Fans so höflich und respektvoll sein?", murmelte ich und freute mich innerlich trotzdem, dass ich den beiden eine Freude machen konnte. Ich vertraute jetzt auch einfach darauf, dass sie nicht doch heimlich Fotos machten oder so, aber ich würde es eh nicht ändern können, also warum sollte ich weiter darüber nachdenken?

Das konnte ich jetzt sowieso nicht mehr, denn gerade kamen Shays Freundinnen auf uns zu und sahen ein wenig ängstlich zu mir auf, was sofort ein ungutes Gefühl in mir aufkommen ließ. „Wincent? Kannst du bitte mitkommen? Ich glaube, deine Schwester braucht deine Hilfe..." Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen, denn sofort schrillten alle Alarmglocken in mir, wenn ich daran dachte, dass sie eben noch mit diesem Typen geknutscht hatte. Suchend blickte ich mich um, während ich den beiden folgte und auch Marie hinter mir herkam. In einer etwas dunkleren Ecke erkannte ich schließlich die blonden Haare meiner Schwester. Sie stand immer noch bei dem Typen, aber mittlerweile sagte ihre Körpersprache etwas ganz anderes aus. „Lass mich, ich will das nicht!", hörte ich ihre Stimme, als wir bei den beiden ankamen und er gerade versuchte, seine Hand unter ihr Top zu schieben. Während sie versuchte, den Kerl von sich zu drücken und auf Abstand zu bringen, schien er ihr immer näher kommen zu wollen. Sofort ging ich dazwischen und stellte mich vor meine Schwester und sah den Typen mit vor Wut funkelnden Augen an. „Lass gefälligst meine Schwester in Ruhe! Sie hat doch deutlich gesagt, dass sie das nicht will!", funkelte ich ihn wutentbrannt an und musste mich echt zurückhalten, ihm keine reinzuhauen. Ich spürte Maries Hand an meinem Arm und merkte, wie mich das davon abhielt, die Kontrolle zu verlieren. Als ich mich vor ihm aufbaute, schien er wohl doch etwas Schiss zu kriegen, denn er war mindestens einen halben Kopf kleiner als ich. Wortlos drehte er sich um und tauchte kurz darauf in der Menschenmenge unter.

Sofort drehte ich mich zu meiner Schwester um, die sich mir direkt in den Arm warf und kurz aufschluchzte. „Wiwi... ich wollte das nicht... ich hätte nicht...", weinte sie, doch ich unterbrach sie direkt. „Du hast nichts falsch gemacht, Shay! Red' dir das bitte nicht ein! Du hast deutlich 'nein' gesagt und nein heißt eben auch nein! Nur leider verstehen das manche Typen immer noch nicht...", redete ich mich leicht in Rage, aber ein Blick zu Marie zeigte mir, dass ich mich besser darauf konzentrieren sollte, meine Schwester zu trösten, statt mich aufzuregen. Und sie hatte ja recht. „Können wir nach Hause? Ich hab' gerade keinen Bock mehr...", murmelte Shay mir ins Ohr und ich nickte nur. War mir ganz recht, ich hätte sie sonst definitiv für den Rest des Abends nicht mehr aus den Augen gelassen. So saßen wir wenig später alle wieder im Auto und fuhren zurück nach Eutin, wo ich erst ihre Freundinnen sicher zuhause absetzte und dann kurz darauf in die Einfahrt zu unserem Haus einbog.

Am nächsten Morgen war die Stimmung dann eher so mäßig gut, was wohl auch nicht verwunderlich war. Mum war auch nicht allzu begeistert von dem Vorfall, machte mir aber immerhin keinerlei Vorwürfe. Grade war sie los zum Einkaufen, während wir drei alle noch etwas müde auf der Couch saßen. „Shay? Versprich mir, dass du auf dich aufpasst und ihr Mädels auch untereinander gut auf euch Acht gebt, ja? Da draußen gibt es leider viel zu viele Typen, die sich ohne Rücksicht einfach nehmen, was sie wollen. Ich will nicht, dass du noch mehr solcher Erfahrungen machen musst..." redete ich leise auf meine kleine Schwester ein und streichelte ihr sanft übers Haar, während sie mit dem Kopf auf meiner Brust lag und sich an mich kuschelte. „Versprochen, Wiwi... ich werd' aufpassen. Aber mach dir bitte auch nicht zu viele Sorgen um mich, ja?", erwiderte sie und spielte mit meinen Fingern. „Werd' ich immer...auch in fünfzig Jahren noch, weil du einfach immer meine süße kleine Schwester bist, die ich beschützen muss...", flüsterte ich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, während ich die Arme fest um sie schlang und wir noch einen Moment kuschelten und die gestrigen Ereignisse sacken ließen.

Mittlerweile waren wieder ein paar Tage vergangen und Marie und ich hatten uns von meiner Familie verabschiedet. Wir waren beide der Meinung gewesen, dass uns ein bisschen Urlaub und Zeit zu zweit mal wieder ganz guttun würde, und so hatten wir spontan ein kleines Ferienhäuschen am Strand in Dänemark gemietet, wo wir uns ein paar Tage zurückziehen wollten. Wir waren gestern angekommen, hatten uns mit genügend Lebensmitteln ausgestattet und allem, was wir sonst noch brauchten für die paar Tage, sodass wir uns jetzt um nichts mehr kümmern mussten. Wir hatten gerade in aller Ruhe gefrühstückt und machten uns gerade fertig für den Strand. Da wir immer noch März hatten, war es noch ziemlich frisch und windig draußen, aber das störte uns nicht. Im Gegenteil, so hatten wir den Strand auch quasi für uns allein. Dick eingepackt schnappten wir uns eine Decke und liefen die paar Meter runter zum Strand, wo wir es uns im Sand gemütlich machten. Zufrieden seufzte ich auf, als mir die frische Meeresluft um die Nase wehte, ich dem Wellenrauschen zuhören und das unruhige Meer vor mir beobachten konnte. Gedankenverloren starrten wir beide eine Weile in die Ferne und schwiegen uns an. Und auch das tat mal ganz gut, einfach nur nebeneinander zu sitzen und nichts zu sagen.

Irgendwann spürte ich Maries Hand an einem meiner Unterarme, welche ich locker über meine Knie gelegt hatte. Langsam drehte ich den Kopf und sah sie fragend an. „Ich find's so schön, dass wir jetzt nochmal ein paar Tage nur Zeit für uns haben. So ganz ohne Arbeit, Uni und alles andere, was uns im Alltag immer stresst...", sagte sie leise und lächelte mich an, bevor sie noch ein wenig näher an mich heranrückte und sich an meine Schulter lehnte. „Ich auch... nach der Studiozeit und dem ganzen Stress drumherum in den letzten Wochen tut es wirklich gut, jetzt noch mal ein paar Tage zu haben, um den Kopf freizubekommen und mir vor allem mal wieder ganz entspannt Zeit für dich nehmen zu können", gab ich zu, denn die letzten Wochen hatten zwar mega viel Spaß gemacht, waren aber eben auch anstrengend gewesen. Und ich hatte des Öfteren das Gefühl gehabt, auch die Zeit mit Marie wäre nur ein weiterer Punkt in meinem eng getakteten Terminplan, denn viel Zeit hatten wir nicht füreinander gehabt. Und wenn es jetzt bald so richtig losging mit der Vorbereitung des Albumreleases, der Promo und allem, was bis dahin eben noch getan werden musste, wie beispielsweise auch die ganzen Unterschriften der Vinyls, Shirts und Deluxeboxen, würde uns auch wieder nur wenig Zeit füreinander bleiben. Deshalb wollte ich die Zeit hier mit ihr wirklich in vollen Zügen genießen und ihr endlich mal wieder die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdiente. „Ich glaube, das wird uns beiden richtig guttun, bevor uns der Alltag wieder einholt", erwiderte sie und lächelte mich zuversichtlich an, bevor sie mich sanft auf die Wange küsste.

Seit du bei mir bist, fehlt mir nichtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt