Kapitel 9

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Nachdem ich das Auspacken der ganzen Kartons und das Dekorieren meines Zimmers schon tagelang aufgeschoben hatte, war es meine Mutter, die mich mehr oder weniger dazu überreden musste, es endlich zutun. Mir fehlte die Motivation und selbst die laute Musik, die mich sonst immer in gute Laune versetzte, bewirkte bei mir nichts, aber besser als Stille. Manchmal genoss ich sie, die Stille, aber an anderen Tagen brauchte ich irgendetwas, dieses irgendetwas war meistens die Musik.

Meine Möbel waren mittlerweile alle aufgestellt und das so, wie es mir gefiel. Das Zimmer war nicht groß, aber die Möbel waren geschickt aufgestellt, sodass ich immer noch ein wenig Platz hatte und solange ich mein Doppelbett behalten konnte, konnte ich sogar auf den Rest verzichten, einigermaßen.

Ich hatte damit angefangen, meinen Kleiderschrank einzuräumen, mehr als genug Kartons waren noch gefüllt mit Klamotten von mir, die ich teilweise sogar schon hier getragen, aber einfach wieder in die Kartons geworfen hatte und so wie ich nun mal war, nämlich schnell in meinen Gedanken versunken, trennte ich mich von einigen Kleidungsstücken. Ein einzelnes Shirt erinnerte mich an einen ganz normalen Tag in New York, ein Tag, der für mich selbstverständlich gewesen war und jetzt war es bloß eine schöne Erinnerung.

Von einigen Klamotten hätte ich mich schon viel früher verabschieden sollen, ich hatte sie ewig nicht mehr getragen und ich wusste, dass es in Zukunft auch nicht mehr dazu kommen würde, in den Kleiderschrank würden all die Sachen sowieso nicht passen und so war ein Karton am Schluss wieder gefüllt mit Klamotten von mir und dennoch war der Kleiderschrank voll.

Und dann passierte das, womit ich von Anfang an gerechnet hatte und weshalb ich das Auspacken überhaupt so lange vor mich hingeschoben hatte.

Kaum hatte ich den nächsten Karten geöffnet, sprangen mir mehrere Bilder entgegen. Es war viel mehr eine Fotocollage und ich erinnerte mich genau daran, wie ich diese beabsichtigt ganz oben hingelegt hatte, damit das Glas das Bilderrahmens nicht beschädigt wurde. Jetzt fragte ich mich, was ich mir überhaupt dabei gedacht hatte, diese Collage mitzunehmen.

Ich hatte sie geschenkt bekommen. Bilder von mir mit Freunden und meiner Familie. Jedes Bild erzählte für mich eine Geschichte und an jede einzelne konnte ich mich noch genau erinnern. Es waren keine besonderen Bilder, zumindest nicht alle, manche von ihnen waren spontan geschossene Selfies, andere von Bällen, Geburtstagen und vom Urlaub. Die meisten Bilder waren von mir Ina, Theresa und El, wir waren wie Schwestern, ja, das traf es am besten. Ich liebte sie allesamt wie Schwestern und vor ein paar Monaten hätte ich mir ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen können. Menschen, die so enge und gute Freunde hatten, konnten sich gut in meine Lage versetzen. Und jetzt saß ich hier, sah mir diese Bilder an und fragte mich, wie sich in so kurzer Zeit so verdammt viel geändert haben konnte.

Ich hatte mich von ihnen verabschiedet, aber im Grunde genommen wussten überhaupt nichts. Der Umzug war eine totale Spontanentscheidung gewesen und wir konnten von Glück sprechen, dass wir so schnell eine Wohnung gefunden hatten. Nein, das entschuldigte nicht, dass ich meinen besten Freunden nicht anvertraut hatte, weshalb das alles überhaupt passiert war. Dass sie deswegen also verdammt wütend waren, konnte ich ihnen nicht verübeln.

Das war der Nachteil, wenn die eigene Familie in der Gegend, in der man wohnte und sogar noch ein wenig darüber hinaus bekannt und angesehen war. Meine Eltern waren so erfolgreich, dass sie mehrere Male in der Woche in der Zeitung standen und zu allen möglichen Veranstaltungen eingeladen wurden, kaum hatten sie das ein Event hinter sich gebracht, stand schon das nächste an und wenn es nicht gerade irgendeine Feierlichkeit gab, dann waren sie am Arbeiten, aber ich hatte mich nie beschwert, ich hatte alles gehabt, was ich wollte und nie wirklich darüber nachgedacht, was ich überhaupt alles hatte. Eltern, die sich trotz ihres vollen Terminkalenders, immer wieder Zeit für mich nahmen, die besten Freunde, die man sich wünschen konnte und ich war so glücklich, dass ich mich jetzt im Nachhinein fragte, ob es überhaupt fair war, dass ein einzelner Mensch mit so viel Glück und Freude erfüllt war. Natürlich hatte ich auch schlechte Zeiten gehabt, wer hatte die nicht? Aber ich konnte nicht sagen, dass ich ein hartes Leben hatte.

Und dann, binnen weniger Wochen, alles weg. Ein Ereignis folgte auf das andere, einige Dinge hatte ich mir selbst zerstört, während andere mir von ganz allein den letzten Funken Glück und Freude nahmen.

Ich vermisste alles. Ich vermisste New York, diese wunderschöne Stadt, in der ich aufgewachsen war und mein ganzes Leben lang gelebt hatte. Meine Verwandten, die so gut wie alle verstreut in New York waren. Meine Freunde, die sich wahrscheinlich erst gefragt hatten, was zur Hölle mit mir los war, aber mich mittlerweile aufgegeben hatten und daran war ganz allein ich Schuld. Ich vermisste das riesige Haus, das bestimmt zehnmal so groß wie diese Wohnung war. Ich vermisste all die kleinen Dinge, wie diesen schönen Park in New York, das Shoppen mit Freunden und mit meiner Mutter, joggen zu gehen, ohne von allen Seiten angesehen zu werden.

Da gab es nur eine Sache, viel mehr eine Person, die ich nicht vermisste. Nicht so, wie meine letzte Erinnerung an diesen Menschen war.

Es war mein Vater. Mein Vater war dieser Mensch. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, nie wieder. Ich hatte seine Entschuldigung gehört. Ich hatte seine Ausreden gehört. Und ich war es leid. Er hatte eigentlich alles gehabt, was sich so gut wie jeder Mann in seinem Alter wünschte, eine wunderschöne Frau, eine gesunde Tochter, mehr als genug Geld, ein großes Haus, drei Autos und einen Traumjob. Dass er das alles verloren hatte, war seine eigene Schuld. Das waren die letzten Worte, die ich ihm gesagt hatte. Dass es seine eigene Schuld war. Ich fragte mich jetzt noch, ob das die richtige Entscheidung gewesen war. Ob ich ihm vielleicht etwas anderes hätte sagen sollen, aber dann wiederum erinnerte ich mich daran zurück, dass ich Recht hatte. Es war seine Schuld und das sollte er wissen. Das sollte er hören. Er sollte es jeden verdammten Tag hören.

Ich beschloss, den Bilderrahmen mit der Collage dennoch aufzuhängen. Ich konnte nichts mehr daran ändern, was passiert war und ja, auf der einen Seite tat es irgendwie weh, diese Bilder zu sehen und zu wissen, dass es nie wieder so sein wird, aber auf der anderen Seite erinnerte es mich an eine schöne Zeit.

Und dennoch konnte ich nicht anders als die Bilder von meinem Vater zu entfernen, es waren nur drei und somit sah die Collage an sich nicht sonderlich verändert aus. Ich wollte ihn nicht sehen, sei es auch nur auf irgendwelchen Bildern. Und in mir kam wohl der emotionale Teenager raus, als ich die Bilder in mehrere Stücke zerriss und in den Mülleimer schmiss, aber ich war überrascht, wie gut das getan hatte.

So ging es dann weiter. So gut wie alles, was mich an meine Vater erinnerte wurde weggeschmissen oder wieder in einen der Kartons gepackt, bis ich fertig war und am Ende dennoch zwei volle Kartons hatte. Einer davon gefüllt mit meinen Klamotten, der andere mit anderem Zeug.

Ich war nicht vollkommen zufrieden mit dem Endergebnis, was ganz sicher daran lag, dass ich dieses deutlich kleinere Zimmer immer wieder mit meinem Zimmer in New York verglich. Ich konnte nicht anders, es passierte schon fast automatisch.



Hunted | Dylan O'BrienWhere stories live. Discover now