Kapitel 28

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Mein Vater. Es war mein Vater, den ich sah. 

Was ich von Weitem nicht gesehen hatte, war das Blut, das seinen Kopf herunterfloss. Auch die Pistole in seiner Hand war mir auf den ersten Blick nicht aufgefallen.

Er war tot. Das war keine Illusion, denn Dylan sah den Mann auch, sein Blick war genau auf ihn gerichtet und er sagte irgendetwas, aber ich war wie in Trance. Trotz allem, was mein Vater getan hatte, war er mein Vater. Es war schlimm genug die Leiche einer Person zu sehen, die man nicht kannte, aber die Leiche seines eigenen Vaters zu sehen, das versetzte einem Menschen ein Trauma. Ich konnte nicht mal klar denken. Ich stellte mir nicht all die Fragen, die ich mir in diesem Moment hätte stellen sollen. Ich konnte nur noch daran denken, dass mein Vater tot war.

"Liv."

Keine Reaktion. Ich konnte nur meinen Kopf schütteln und versuchen meine Tränen zu unterdrücken.

Und dann fing ich doch an mich zu fragen, was er überhaupt hier zu suchen hatte. Ganz offensichtlich war er wegen mir hier. Aber woher hatte er gewusst, dass ich genau heute hier sein würde? Hat er sich das selbst angetan? Warum hat er sich das angetan?  

Die Polizei, die Dylan gerufen hatte, kam kurze Zeit später, ebenso wie ein Krankenwagen. Es waren zwei Polizisten, einer von ihnen sprach mit dem Notarzt, während der andere mir und Dylan irgendwelche Fragen stellte, die allesamt von Dylan beantwortet wurden, weil ich sie nicht mal wirklich wahrnahm. 

"Ich gehe davon aus, dass ihr diesen Mann nicht kennt?"

Das war die erste Frage, die ich richtig hörte. Dylan schüttelte seinen Kopf, aber ich versuchte mich dazu zu überwinden, etwas zu sagen. Erst jetzt fiel mir auf, wie viele Schwierigkeiten ich dabei hatte.

"Das ist..war mein Vater", antwortete ich schließlich mit leiser Stimme, den Tränen jetzt umso näher und als ich diese tatsächlich nicht mehr zurückhalten konnte, war ich Dylan umso dankbarer, dass er nicht zögerte, als er seine Arme um mich legte. Sein Gesichtsausdruck hatte schon alles gesagt. Er war schockiert und er zeigte Mitleid; kein gespieltes Mitleid, das man oft nur aus Höflichkeit bekam.

Immer und immer wieder spielte sich dieser Moment wie ein Film in meinem Kopf ab und das die gesamte Beerdigung über. Ich hatte nicht wirklich zugehört und ehrlich gesagt, wollte ich das auch gar nicht. Ich bezweifelte, dass überhaupt jemand die ganze Zeit über richtig zugehört hatte, was der Pfarrer zu sagen hatte. Bei der kurzen Rede von meiner Grandma richteten ihr einige wieder ihre Aufmerksamkeit, aber dabei blieb es dann auch. 

Ich hätte genauso gut dort vorne stehen können. Ich wurde darum gebeten. Aber ich konnte es nicht. Nicht, weil ich schwach war und Angst hatte, ihn Tränen auszubrechen, bevor ich überhaupt ein Wort ausgesprochen hatte, nein, das war es nicht. Ich wollte das einfach nur nicht. Trotz allem hatte dieser Mann mich und meine Mutter verletzt. Wenn ich an ihn dachte, dann kamen mir immer noch all die schlimmen Erinnerungen an ihn hoch. Was sollte ich also über ihn sagen? Dass er ein toller Vater gewesen war? Wie sehr ich ihn geliebt hatte? All diese Dinge trafen auf meinen Vater zu, bevor er zu einem kompletten Arschloch mutiert war.

Ich hatte meinen Vater schon verloren, bevor er sich selbst umgebracht hatte, denn ja, genau das hatte er getan; Selbstmord. Der Mann, der mich fast siebzehn Jahre lang begleitet und mit meiner Mutter großgezogen hatte, war schon lange vor der Scheidung meiner Eltern gestorben und war durch einen drogenabhängigen Alkoholiker mit einem Aggressivitätsproblem ersetzt worden. 

Und dennoch fühlte es sich so an, als ob ich ihn jetzt das zweite Mal verloren hatte. Ich hatte mich heute wieder an etwas erinnert, das ich irgendwo gehört hatte. Es war ein Spruch, der eine Person stärken sollte, die gerade eine unschöne Trennung hinter sich hatte. Wenn man eine Beziehung hinter sich hat, dann denkt man meistens an all die schönen Dinge, die man zusammen erlebt hatte. An die guten Dinge, die diese Person getan hat. Aber genau das macht es so schwer, darüber hinwegzukommen. 

Deswegen sollte man daran denken, weshalb man sich getrennt hat. Denkt man an all die schlechten Zeiten und die schlechten Dinge, die diese Person getan hat, dann fällt es so fiel leichter, sich nicht länger selbst zu bemitleiden und dieser Person nicht ewig lange nachzutrauern. 

Aber wenn diese Person der eigene Vater ist, dann ist das nochmal eine andere Geschichte. Es ist schwerer. Man kann nicht einfach darüber hinwegsehen und sich einreden, dass diese Person nun einfach nur ein Teil der Vergangenheit war. Es war mein Vater. Eine Person, die ich 17 Jahre lang gekannt hatte. Eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. 

Diese Person sollte jetzt einfach nicht mehr da sein? Es war nicht schwer, das zu glauben. Aber ich wollte es gar nicht glauben. 

Dylan, der neben mir saß, griff nach meiner Hand. Dass er hier war, tat mir wirklich gut. Er hatte meinen Vater nicht gekannt und er war auch gar nicht wegen meinem Vater hier in New York, sondern wegen mir. Ich würde nicht in Tränen ausbrechen oder irgendeinen Schwächeanfall bekommen, wenn er nicht hier wäre, aber die Tatsache, dass er gerade neben mir saß und meine Hand hielt, machte die ganze Sache wenigstens ein wenig leichter für mich. 

Was da zwischen uns war, sofern es da etwas gab, blieb nach dem Ereignis bei der Hochzeit immer noch ungeklärt. Aber mal wieder hatte ein anderes Problem in diesem Moment Vorrang. Ich konnte einen Jungen nicht vor meinen eigenen, verstorbenen Vater stellen, egal, was für Dinge mein Vater getan hatte.

Ich war nur froh, dass ich zumindest die Beerdigung hinter mich gebracht hatte. Damit fehlten jetzt nur noch die Leute, die ihr Beileid für mich aussprechen würden, sobald sie mich entdeckten. Ich wusste, dass es gut gemeint war, aber gerade wollte ich einfach nur zurück in das Hotel, in welchem wir untergekommen waren. 

"Liv?"

Dylan und ich waren gerade auf dem Weg zu dem Parkplatz, um in das Haus zu fahren, in welchem ich vor einem Jahr noch gelebt hatte. Dort würden alle Angehörigen und Freunde meines Vaters sich versammeln. Ein gemeinsames Abendessen. Wie sollte ich eigentlich überhaupt etwas essen, wenn ich das Gefühl hatte, dass da ein riesiger Knoten in meinem Magen war? 

Kaum hatte ich mich umgedreht, wurde ich bereits in eine Umarmung gezogen, die ich sofort erwiderte.

Wir, ich und Hailey , standen bestimmt einige Minuten einfach nur so da, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Ich hatte vollkommen vergessen, dass sie hier sein würde. Natürlich war sie hier. Mein Vater war schon fast wie ein zweiter Vater für sie gewesen, so oft wie sie bei mir gewesen war. 

Den gesamten Tag über hatte ich mir die Tränen verkniffen. Mehrere Male war ich kurz davor, zu weinen, aber ich hatte mich jedes Mal dagegen gewehrt, zumindest bis jetzt. Es war nicht nur Hailey, meine beste Freundin, die ich nach fast einem Jahr wiedersah. Es war alles andere. Es war so, als ob alles, was ich zuvor verdrängt oder zurückgehalten hatte, jetzt freigelassen wurde. Der Tod meines Vaters. All die Morde in Beacon Hills. Die Dämonen. Die Alpträume, Stimmen und Illusionen. Selbst die ungeklärten Dinge mit Dylan. Einfach alles.

"Du hast mir so einiges zu erzählen."


Hunted | Dylan O'BrienWhere stories live. Discover now