Kapitel 25

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Lass es zu, Olivia. 

Immer wieder und wieder erinnerte ich mich daran, dass diese Stimmen nicht real waren. Ich durfte nicht auf sie hören. Ich musste sie ausblenden. Zwar wusste ich, weshalb ich diese Stimmen hörte und wie ich sie loswerden konnte, aber das machte es mir nicht sehr viel leichter, dieses Ziel zu erreichen. Ich hörte sie immer noch. 

Olivia. 

Keine Stimmen. Da sind keine Stimmen. 

Ich versuchte meinen schweren Atem zu regeln und fragte mich selbst, wie ich das aushielt. Ich hörte all diese Stimmen, teilweise sprachen sie so durcheinander, dass es mir Kopfschmerzen bereitete und ich im nächsten Moment einfach nur so laut wie möglich schreien wollte. Ich würde verrückt werden, mich freiwillig in eine Psychiatrie einweisen lassen, wenn ich nicht genau wüsste, woher diese Stimmen kamen. 

"Olivia!" 

Für einen kurzen Moment dachte ich, es sei nur eine der Stimmen, aber nein, es war meine Mom. Und mit der Stimme meiner Mom verschwanden all die anderen, woraufhin sich der für mich nicht neue Schmerz auf meiner Schulter ausbreitete. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass sich das Zeichen vervollständigt hatte. Es sah tatsächlich aus wie ein Tattoo, nicht länger rot. 

Es war vorbei. Zumindest für mich. Keine Stimmen. Keine Alpträume. Keine Illusionen. Nichts von alledem. Was aber trotz allem blieb, waren die Dämonen, die mehr als genug andere Opfer hatten. Weiterhin würde es Morde geben. Menschen würden sich selbst umbringen. 

Und auch ich war nicht komplett sicher. Ich brauchte mich nur an die Situation mit Dylan im Auto zurückzuerinnern. Beabsichtigt hatte jemand einen Unfall verursacht, der um einiges schlimmer hätte ausgehen können. Jetzt war nicht nur Dylan das Ziel dieser Dämonen, sondern auch ich. Menschen wie ich und er standen ihnen im Weg. Wir waren immun, falls man das so bezeichnen konnte. Wir waren eine Bedrohung und diese Bedrohung wollten sie schnellstmöglich loswerden. 

"Liv!", hörte ich meine Mutter ein weiteres Mal rufen, allerdings betrat sie dabei diesmal mein Zimmer, ein Brief in ihrer Hand.

"Er ist vom College", fügte sie hinzu, bevor sie den Raum verließ. Vom College. Konnte man mir übel nehmen, dass ich das komplett vergessen hatte, nach allem, was passiert war? Ich hatte es kaum erwarten können, diesen Brief zu bekommen, als ich ihn verschickt hatte und jetzt, wo ich ihn tatsächlich hatte, konnte ich nur noch daran denken, dass ich größere Probleme als meine Aufnahme an dem College hatte. 

Ich las mir nicht mal den ganzen Brief durch. Wer tat das auch schon, wenn alles, was man wissen wollte, zusammengefasst in einem einzigen Satz stand? Und genau dieser eine Satz sprang mir direkt ins Auge. 

Herzlichen Glückwunsch!

Allein diese zwei Worte hatten mir die Antwort gegeben und der nächste Satz bestätigte das nur. Angenommen. Ich wurde an dem College angenommen, auf das ich schon immer hatte gehen wollen. Es war etwas, das meine Eltern mir immer gewünscht hatten. Es war der Grund dafür, dass ich mich so sehr angestrengt hatte. 

Allerdings hatte ich mir diesen Moment immer anders vorgestellt. Ich freute mich, keine Frage, aber ich war nicht so glücklich, wie ich es unter anderen Umständen gewesen wäre. 

Dabei hatte ich jetzt, wo das Zeichen sich vervollständigt hatte, umso größeren Grund zur Freude. Nur noch ein paar Wochen und ich hätte meinen Abschluss, ich könnte diese Stadt verlassen und auf das College gehen, wie ich es schon immer gewollt hatte. Selbst nach dem Umzug war das mein Plan gewesen, raus aus dieser Stadt und aufs College. 

Was war es also, dass mir dieses komische Gefühl gab? Das Gefühl, dass ich nicht einfach gehen konnte. Dass mir hier trotz allem irgendetwas fehlen würde oder mich irgendetwas weiterhin an diesem Ort hielt. 

"Liv?"

Es war meine Mutter, die den Raum betrat und ihrem Gesichtsausdruck zufolge ging sie gerade davon aus, dass ich keine guten Neuigkeiten erhalten hatte. Übel nehmen konnte ich ihr das nicht, denn das Lächeln, das ich kurz zuvor noch getragen hatte, war nun nicht mehr länger zu sehen. Aber genau das sollte man tun, wenn man gerade eine Zusage für sein Traum-College bekommen hatte. Man sollte lächeln und sich freuen. 

"Ich wurde angenommen", berichtete ihr und kaum hatte ich das getan, zog sie mich in eine Umarmung, sagte mir, wie stolz sie auf mich war. 

"Liv, das ist toll. Das ist mehr als toll, wow! Wir sollten feiern, oder? Ja, das sollten wir. Weißt du noch? Das habe ich dir versprochen, als du die Bewerbung für das College abgeschickt hast."

Tatsächlich erinnerte ich mich daran. Meine Mom wollte mit mir in dieses Restaurant gehen, das ich so sehr liebte. Es war mal eine Art Tradition gewesen, dass wir an dem Geburtstag meiner Mom dort essen gingen, aber irgendwann hatten wir damit aufgehört, mal hatte meine Mom keine Zeit, mal war es mein Vater und selbst ich hatte einmal keine Zeit gefunden. Selbstverständlich würden wir nicht in dieses Restaurant gehen, aber das war auch nicht länger nötig. 

"Hey, vielleicht solltest du Dylan einladen? Immerhin nimmt er dich zu dieser Hochzeit mit", schlug meine Mom vor, nachdem ich vorherigen Idee mit einem Nicken zugestimmt hatte. 

Bei der Erwähnung seines Namens konnte ich regelrecht hören, wie es in meinem Kopf 'Klick' machte. Es war nicht irgendetwas, das mich hier hielt. Es war eine Person. 

Ich mochte Dylan. Ich konnte nicht länger leugnen, dass er mir wichtig war und ich mich um ihn sorgte. Ebenso wusste ich, dass ich ihm nicht komplett egal war. Und das machte mich wütend. Es machte mich wütend, dass ich es so weit kommen lassen hatte.

"Er...Mom, er weiß nichts von dem College und ich bin heute nicht in der Laune, es ihm zu sagen. Ich meine, er-"

"Du magst ihn wirklich, oder?", unterbrach sie mich mit einem leichten Lächeln.

"Ja, ich mag ihn wirklich und genau deswegen weiß ich, dass ich ihm nicht heute davon erzählen sollte."

"Liv, ich glaube, er weiß, dass du diese Stadt schnellstmöglich verlassen willst. Es wird ihn nicht überraschen."

Sie hatte Recht. Wir, ich und Dylan, hatten nie wirklich darüber geredet. Gerade fragte ich mich, ob er überhaupt darüber nachgedacht hatte, denn für mich war es das erste Mal, das ich mir Gedanken darum machte. Weshalb machte ich mir überhaupt solche Sorgen? Mit größter Wahrscheinlichkeit würde Dylan die Stadt ebenfalls verlassen, sei es wegen einem College oder einem Job, was auch immer. 

"Ist das bescheuert? Mom, ich kenne ihn gar nicht so lange. Wir sind nicht mal zusammen, ich weiß nicht mal, ob ich das will und trotzdem will ein Teil von mir sich nicht von ihm verabschieden."

Ich war froh, dass ich so offen mit meiner Mutter sprechen konnte. Sie war eine der wenigen Personen, mit denen ich überhaupt so sprechen konnte. Ich brauchte gerade einen Rat, denn wie sollte ich selbst auf einen Entschluss kommen, wenn meine Gedanken so durcheinander waren? Ich hinterfragte immer wieder jede Kleinigkeit, die ich sagte, dachte oder tat. Ich kam mir wie eines dieser Teenager-Mädchen vor, die wegen jedem Problem zu ihrer Mom oder besten Freundin rannten, weil sie nichts selbst auf die Reihe bekamen. So wollte ich nicht sein.

"Schatz, zwei Menschen müssen nicht in einer Beziehung sein, um für den jeweils anderen eine Bedeutung haben. Du weißt, wie ich dazu stehe und das sage ich als Mutter, die ihre Tochter kennt. Dieser Junge mag dich genauso sehr wie du ihn, wenn nicht sogar ein kleines Stückchen mehr. Ich weiß nicht, ob es Freundschaft ist oder ob mehr daraus werden kann, das müsst ihr beide selbst herausfinden, Liebes."

"Weißt du, dein Vater und ich, als wir uns kennengelernt haben, hätten wir uns beide nie im Leben vorstellen können, eine Beziehung zu führen. Ein paar Monate später waren wir zusammen, ein paar Jahre später verheiratet", fügte sie hinzu.

Im Endeffekt wäre es mir viel lieber gewesen, wenn sie mir einfach gesagt hätte, dass ich über Dylan hinwegkommen sollte, denn ehrlich, genau das wollte ich tun. Ich wusste nicht, was da zwischen uns war, falls da überhaupt etwas war, aber was auch immer da war, es würde nicht lange halten. Spätestens in ein paar Wochen, wenn ich aufs College ging und er Gott weiß was tat, würde das mit uns ein Ende nehmen. Egal, ob es eine Beziehung oder nur die Freundschaft war. 

Hunted | Dylan O'BrienWhere stories live. Discover now