29. Verzweiflung

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Hallo allerseits,
ich hatte heute einen unerwartet produktiven Schreibfluss und kann euch deshalb mit einem neuen Kapitel ins Wochenende schicken, wuhuuu! Auf geht's!
Liebe Grüße 🙋🏼‍♀️

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Samia POV

Endlich war Stefan weg! Die Erleichterung darüber fühlte sich an als hätten sich gerade dutzende stählerne Fesseln von mir gelöst. Die Nähe zu diesen Menschen machte mich wirklich fertig. Entkräftet seufzte ich leise und atmete gegen die aufkommenden Tränen an. Da ich drohte, auch diesen Kampf zu verlieren, ging ich zur Ablenkung zu dem Bett hinüber und ließ meinen Blick über die mit Anziehsachen gefüllten Tüten schweifen. So machen Frauenherz hätte beim Anblick dieser sündhaft teuren Marken sicherlich höher geschlagen aber auch wenn ich die ekelhafte Situation, in der ich mich befand, außen vor ließ, hätte mich der Haufen Stoff nicht im Geringsten tangiert. Ich hatte noch nie viel Wert auf meine Kleidung gelegt. Sauber und ordentlich sollte es definitiv sein aber Marke und Stil waren mir egal. Hauptsache die einzelnen Stücke gefielen mir. Deshalb war ich gerne ein oder zweimal im Jahr über den großen Flohmarkt in der Stadt geschlendert und hatte mir mit netten Gesprächen aus dem Meer von Vielfalt das ein oder andere Kleidungsstück rausgepickt. So erzählte jede Hose, jedes Shirt und jede Jacke seine individuelle Geschichte und bei vielen Teilen hatte ich auch noch heute eine gute Erinnerung an die freundlichen Verkäufer.

Nun rannen mir doch wieder stumm die Tränen über die Wange als mir bewusst wurde, wie unerreichbar so alltägliche Dinge für mich geworden waren. Würde ich es überhaupt jemals wieder erleben dürfen? So wie die zwei Männer heute die Kontrolle verloren hatten, war ich mir so unsicher darüber wie vielleicht noch keinen Moment zuvor. Noch immer war mir Marks Verhalten völlig rätselhaft aber ich würde mir auch nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen, denn aus all dem Mist hier konnte ich eh nicht schlau werden.
Dieser Gedanke bestätigte sich, als ich die zahlreichen Tüten ausschüttete und beinahe mechanisch begann, die Kleidung in den Schrank rechts neben dem Bett zu sortieren. Es schnürte mir förmlich die Kehle zu, zu wissen, dass ich die Klamotten möglicherweise wirklich alle brauchen würde.
Ich musste den Männern allerdings lassen, dass sie an alles gedacht hatten. Von Unterwäsche über Pyjamas bis hin zu schicker Bluse war alles dabei. Auch wenn das alles definitiv nicht mein Stil war, war ich immerhin froh, dass es sich um nichts Aufreizendes handelte. Auch die Unterwäsche war schick und mit ein wenig Spitze aber insgesamt alltagstauglich und nicht zu verrucht. Normalerweise würde ich alles in die Wäsche werfen bevor ich es trug aber erstens brauchte ich dringend etwas zum anziehen und zweitens wollte ich nicht zu den Männern gehen und sie fragen ob ich Wäsche waschen dürfte.
Ich wischte mir beinahe genervt von mir selbst über meine unkontrollierten Gefühle die unaufhörlich fließenden Tränen von den erhitzen Wangen, schnappte mir den Stoffstapel, den ich mir für heute zurecht gelegt hatte und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Kurz nach fünf. Somit hatte ich noch knappe zwei Stunden Zeit für mich, bevor ich wohl oder übel meinen Gang zum Abendessen antreten musste.

Viel lieber hätte ich mich konzentriert hingesetzt um mir einen Fluchtplan zu überlegen aber dafür wusste ich zu wenig über die Männer, die Tagesabläufe und auch über das Anwesen. Bei dieser Hochsicherheitsfestung wäre eine erneute unüberlegte Flucht zum scheitern verurteilt ehe ich es richtig versucht hätte. Zudem würde ich meine Entführer damit wohl alles andere als gnädig stimmen und so wie die gerade drauf waren, musste ich ja nicht noch Öl ins Feuer geben. Der Gedanke missfiel mir und alles in mir strebte dagegen auch nur eine Stunde länger hier zu bleiben aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste mich in Geduld üben und hoffen. Hoffen auf eine Chance zu entkommen und darauf, dass ich bis dahin noch am leben sein würde.

Eine Welle der Verzweiflung baute sich bedrohlich vor mir auf, doch ich ließ sie mich nicht überrollen sondern raffte mich auf und ging ins Bad hinüber.
Ich legte die Kleidung auf das kleine Schränkchen neben dem Waschtisch und schloss danach sorgsam die Badezimmertür ab und vergewisserte mich auch noch ein zweites Mal, dass sich die Tür auch wirklich nicht öffnen ließ.
Ich atmete tief durch und ging wieder zum Waschbecken herüber. Dort stützte ich mich auf dem Porzellan ab und überwand mich, meinem eigenen Spiegelbild entgegenzublicken. Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt und doch erschrak ich als ich mich selbst betrachtete. Meine Augen waren dunkel unterlegt, meine Wangen waren regelrecht farblos und beinahe eingefallen obwohl ich keine 24 Stunden hier war und die Platzwunde an meiner Schläfe tat ihr Übriges um mein Antlitz dem eines Zombies gleichwerden zu lassen.

Ich durfte mich jetzt nicht hängen lassen! Vor allem nicht jetzt schon nach so kurzer Zeit, wie sollte es denn sonst noch weitergehen? Ich richtete mich auf und straffte meine Schultern. „Das sieht doch gleich viel besser aus!" lobte ich mich selbst und ich wusste, dass ich mich vielleicht schon auf einem schmalen Grad Richtung Wahnsinn befand aber ich dufte einfach nicht aufgeben! Ich wollte hier raus und würde alles dran setzen um es auch zu schaffen.
Mit einer kleinen Portion neuer Energie und Zuversicht legte ich das geliehene TShirt ab und wollte mich auf den Weg zur Dusche machen. Eine warme Dusche nach einem katastrophalen Tag, was könnte es besseres geben? Alternativen wie Freiheit, Zuhause und Sicherheit ließ ich bei der Abwägung außen vor. Als ich allerdings den Eingang der Dusche passieren wollte, blieb ich wie angewurzelt stehen. Meine Beine waren wie festgewachsen und ließen sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Überrascht von der Reaktion meines eigenen Körpers, blickte ich erstaunt an mir herunter als müsste ich sichergehen, dass meine Beine noch da waren und nur einfach nicht mehr gehorchten.
Ein weiterer Versuch, mich vorwärts zu bewegen, brachte mir eine halbe Fußlänge ein. Als Reaktion auf dieser Vorwärtsbewegung spürte ich, wie sich ein Zittern anbahnte und sich von meinen Händen über meine Arme bis hin in meine Beine ausbreitete. Kalter Schweiß drängte sich aus jeder Drüse meiner Haut und dann tauchten die Bilder vor meinem Inneren Auge auf.
Blut. Überall war Blut und es regnete Eiskristalle von oben herab. Das Flashback in die Erlebnisse des heutigen Morgens packten mich mit einer unvorhergesehenen Wucht, sodass ich schockiert aufkeuchte und zurücktaumelte.
„Nein, nein, nein!" flehte ich, denn das konnte ich jetzt nun wirklich nicht gebrauchen. Ich würde nicht ums Duschen drumherumkommen, da ich schließlich nicht tagelang ungewaschen sein wollte. Das stand fest. Ich gab mir deshalb einige Minuten, um meinen Atem und Puls zu entschleunigen und wagte dann einen zweiten Anlauf in die Dusche zu kommen. Doch auch dieses Mal streikte mein Körper ohne, dass ich die Kontrolle über diesen wieder erlangen konnte.
Nun vielmehr genervt von mir selbst als schockiert über das Flashback an sich stöhnte ich auf und entfernte mich von der Dusche. Mit jedem Schritt wurde ich merklich ruhiger.

„Na toll. Und jetzt?" fragte ich mich stumm und Tränen brannten in meinen Augen. Bis gestern war ich nie jemand gewesen der häufig und schnell weinte aber diese Männer hatten diese Selbstbeherrschung pulverisiert und schon der kleinste Auslöser genügte, um mich an den Rande der Verzweiflung zu bringen.

Nach einer Lösung eifernd, strengte ich mein Hirn an, eine Alternative zu dieser verfluchten Dusche zu finden.
Das Waschbecken drängte sich in den Vordergrund aber das erschien mir angesichts meiner langen Haare als keine so gute Idee, wenn ich es nicht gerade darauf anlegen wollte, dass die Männer mich mit einer Schere befreien mussten, weil meine Haare sich im Abfluss verfangen haben. Nein, das war definitiv keine Option.
Immer wieder umkreisten meine Gedanken eine Überlegung, die ich jedoch nicht wahrhaben wollte.

Es schien mir allerdings nichts anderes übrig zu bleiben: die Duschen meiner Entführer.

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