5. Schneeflocke

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Warum hielt er jetzt meine Hand?

Warum brachte er mein Herz zum-
,,Ist ja gut, Hyung.
Brauchst dich nicht so an mich zu klammern, ich ziehe dich ja nicht mehr."
Wie ich es schaffte, so fest und standhaft zu klingen, wusste ich selber auch
nicht.
In der Regel galt meine gesamte Aufmerksamkeit der leuchtenden Tanne,
denn sie wurde nur einmal im Jahr so famos geschmückt.
Dieses Mal lag meine Konzentration bei der warmen Hand, die Meine
festhielt.
,,Komm, wir setzten uns auf der Bank hin."
Jetzt war ich derjenige, der von Chan hinterher gezogen wurde.
Auch er hatte sich in eine dicke schwarze Winterjacke gepackt und sich
einen schwarzen Hoodie über die Ohren gezogen.
Ehe ich mich versah, wurde ich auf die Bank gedrückt, wobei sich unsere
Hände voneinander lösten.
Kälte traf jetzt auf meine Finger und ich steckte sie rasch in meine
Jackentasche, um das Zittern zu verbergen.
Was machte dieser Kerl nur mit mir?
Wo ist bitte diese laute, unverschämte Seite von mir hin?
,,Du hast gemeint, du hättest gerne ganze Sätze, also:
Danke, dass du mich heute zu deiner Familie mitgenommen hast.
Sonst..."
Ich horchte auf.
,,Sonst?"
Als ich ihm einen Seitenblick zuwarf, sah ich Kummer und Einsamkeit in
seinen Augen aufflackern.
,,Hätte ich Weihnachten wieder alleine am Fenster verbracht..
Mit einem Glass Wein in der Hand."
Das war eine Aussage.
Ich hatte Channie-Hyung noch nie Wein trinken sehen.
Auch nicht heute, denn er hatte sich mit einem Orangensaft begnügt.
Er drehte sein Gesicht zu mir und schenkte mir ein Lächeln.
Eines, welches vor Traurigkeit triefte.
,,Versteh mich nicht falsch!
Ich mag es, alleine zu sein, doch manchmal, da wünscht man sich einfach
eine Nähe.
Verstehst du?"
Tat ich wirklich.

Sehr gut sogar.
Auch mich hatte dieses Gefühl oft heimgesucht und war wie vielen anderen
auch, nicht fremd.
Es musste sich schrecklich anfühlen, wenn die eigene Familie nicht schnell
erreichbar war.
Und eine Umarmung ist nun mal etwas anderes, als ein Winken auf dem
Bildschirm oder ein rotes Herz in einem Chat.
Selbstverständlich waren diese Gesten immer noch besser als nichts und
dank der heutigen Entwicklung auch möglich, dennoch...
,,Wie kannst du damit eigentlich so gut umgehen, Hyung?", platzte die
Frage aus mir heraus.
,,Wie meinst du das?", stellte er die Gegenfrage mit einem schief gelegtem
Kopf.
,,Ä-Äh", das hatte mich soeben aus der Bahn geworfen.
Doch Chan wartete geduldig und ich legte mir die Wörter zusammen.
,,Das ist so unheimlich stark von dir..
Ich hätte wirklich Probleme, wenn ich von engen sozialen Kontakten
geschnitten werden würde.
Einfach, weil ich deren Gesellschaft so genieße.
Sie vielleicht auch brauche.
Die von meiner n Eltern.
Und sogar meiner neckenden Schwester.
Daher..."
,,Fällt es dir schwer, mich nachzuvollziehen?"
Ich nickte missmutig.
Tief in mir hegte ich den großen Wunsch, ihm diese Einsamkeit wegnehmen
zu können.
Gab es für mich überhaupt eine Option, das zu tun?
,,Weißt du Changbinnie..
Es gibt immer irgendjemand, der dir damit hilft.
Auch ich habe so jemanden."
Mein Herz stolperte.
,,Ja?", brachte ich mit Mühe heraus.
,,Ja", kam es sicher zurück.
Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen.
So unfassbar sanft und wehmütig.
Steine drückten mir auf den Magen, als ich die nächsten Wörter aus
meinem Mund herauspresste.

Mit der Absicht, den eifersüchtigen Ton zu verbannen, der in meinem
Inneren hauste.
,,Du klingst verliebt, Channie-Hyung"
Jetzt drehte er sein Gesicht wieder zu mir, das sanfte Lächeln verwandelte
sich in ein breites Grinsen.
,,Ich glaube, das bin ich auch."
Etwas schien zu bröckeln.
Dunkle Schlieren dämpften das helle Licht der geschmückten Tanne, welche
20 Meter vor uns stand.
Die Bank fühlte sich an meinen Oberschenkel eiskalt an.
Meine Hände waren in die Jackentaschen gekrallt und der Schlüsselbund in
meiner Hand schien sich wie kleine Nadeln in meine Haut zu stechen.
Der leicht fallende Schnee traf auf meine Wangen und wirkte wie feiner
Eissplitter, welcher eiskalt war und sich in meine Wangen, Nase und Lippen
biss.
,,Ach, das ist doch schön", hörte ich mich sagen.
Chan war verliebt.
Chan war verliebt.
Chan war verliebt.
Scheiße.
Scheiße.
Scheiße.
,,Soll ich dir ein Geheimnis sagen?", fragte er, doch selbst seine Wörter
drangen kaum zu mir durch.
Ich gab keine Antwort.
Konnte ich wahrscheinlich auch nicht.
Dann spürte ich warme Hände, welche meine bereits kalten Wangen
umschlossen.
Sie strichen etwas weg.
Etwas Nasses.
,,Changbinnie..
Hey, warum weinst du?"
Dies war der Punkt, an dem ich meine Träne bemerkte und sie mit wildem
Blinzeln zu verbannen versuchte.
Doch nur noch mehr Tränen entflohen aus meinen Augen.
Ich schluchzte nicht.
Ich heulte auch nicht auf.

𝐒𝐜𝐡𝐧𝐞𝐞𝐰𝐨𝐥𝐤𝐞𝐧 || 𝓐𝓭𝓿𝓮𝓷𝓽𝓼𝓴𝓪𝓵𝓮𝓷𝓭𝓮𝓻Where stories live. Discover now