Prolog

221 14 3
                                    

Morgenröte

Prolog

Weit lagen die Dächer vor mir wie eine Wüste aus Beton. Grau in Grau. Die Farben waren verschwunden. Nur noch der Himmel lag darüber, das Blau war zu einem facettenreichen Orange gewichen, die Morgenröte lag über der Stadt. Nur am Horizont lag der Ozean noch tiefblau in tiefblau. In meinem Rücken erblickten die ersten Strahlen des Tages diese Welt. Einmal hatte man mir gesagt, dass jeder Morgen wieder einen neuen wundervollen Tag bringen würde. Es käme nur darauf an, was man daraus machen würde. Obwohl der heutige noch nicht einmal wirklich angebrochen war, hatte ich ihn schon versaut. Doch es wäre besser so. Besser für meine Familie, besser für meine Freunde.

Zögerlich ging ich noch einen Schritt weiter. Nun standen meine Füße auf dem leicht erhöhten Absatz. Ein Windhauch strich durch meine Haare. In dieser frühen Morgenstunde würde mich niemand retten können. Noch einmal nahm ich einen tiefen Atemzug, schloss meine Augen. Der letzte Schritt fehlte noch. Zögerlich nahm mein linker Fuß ihn zuerst, er blieb in der Luft hängen, kaum Sekunden später folgte mein Körper und ich fiel in die Morgenröte. Ich konnte die Luft an meinen Ohren vorbeiziehen und in ihnen wild das Blut rauschen hören. In meinen Gliedern spürte ich, wie das Adrenalin durch sie strömte und den letzten nicht verbliebenen Anstand vertreiben wollte.

Ob ich Schmerz fühlen würde? So gefühlslos wie ich geworden war und, dass man angeblichen im Adrenalinrausch keine Schmerzen mehr spüren würde, ließ in mir diese Hoffnung, dass ich nichts spüren würde, aufblühen. Ein Lächeln zog sich über meine Lippen. Ich hatte lange nicht mehr gelacht. Immer und immer lauter wölbte sich meine Kehle, ich begann zu lachen. Irgendwie erfüllte mich dieser Moment mit Freude. Und doch würde ich so Vielen Schmerzen zufügen.

Immer näher kamen einige verzweifelte Schreie. Der Boden war irgendwie weich als ich aufkam. Wie in Trance lag ich dort, lachend, mit geschlossenen Augen. Immer näher kamen die Stimmen, mein Lachen verhallte, nur noch wie des Teufels Angesicht verzog sich meine Fassade zu einer lächelnden Grimasse.

„Der Mann lebt noch." Absätze kamen näher auf mich zu, Finger umfassten meine Hand und nahmen an meinem Gelenk den Puls.

„Wann kommen denn endlich die Sanitäter?!?" Ich wusste nicht ob ich einfach aufstehen könnte, um es noch einmal zu versuchen. Kein einziges Teil meines Körpers schmerzte. Es war erstaunlich.

Langsam kroch Wärme meinen Nacken hinauf. Es war keine Berührung, vermutlich war es nur mein Blut, da ich mir den Schädel aufgeschlagen hatte. Einmal hatte ich gehört, dass der ganze Schädel zertrümmert werden würde, was offensichtlich doch nur ein Gerücht war. Oder es war einfach nicht hoch genug gewesen.

In der Ferne tauchten Sirenen auf. Jetzt wo ich meine Augen geschlossen hatte, ich meine Glieder nicht mehr spüren konnte und meine Zunge taub vor Eisen war, war ich in der Lage mich nur noch auf diesen einen Sinn zu konzentrieren. Langsam, aber gleichmäßig, kamen sie auf mich zu, als ich es nicht mehr weiter hätte ertragen können verstummten sie plötzlich.

„Wieder so einer...", brummte ein Mann genervt. Mein Gesicht war inzwischen ebenfalls taub geworden, das Lachen blieb jedoch wahrscheinlich.

„Verdammt, helfen sie ihm. Der Mann lebt noch!" Wieder war es die Frau mit den Absatzschuhen. Immer mehr Hände legten sich um mich, es wurde irgendwie wärmer, der Boden löste sich auf.

War ich tot?

Ich spürte wieder wie Atem in mich drang. Ich atmete selber, davon schien ich überzeugt zu sein, wieder spürte ich die Luft in meinen Lungen. Mein Gesicht schmerzte, ich versuchte es ganz ruhig zu halten und hielt meine Augen geschlossen. Ich war mir nicht bewusst wo ich war. Vielleicht gab es doch ein Leben nach dem Tod. Wo soll ich sonst sein?

Immer weiter drang meine Umwelt zu mir. Ich hörte verschiedene Maschinen, leises Piepen in regelmäßigen Abständen und der Geruch von Desinfektionsmittel kroch mir in die Nase. Unverwechselbar befand ich mich in einem Krankenhaus. Ich musste mit purem Glück überlebt haben.

„Sie haben Glück gehabt. Ihr Mann hat das irgendwie überlebt." Doch nicht tot. Als ich auf dem Boden mein Bewusstsein verloren hatte, hatte ich eigentlich geglaubt, dass es endlich zu Ende war.

„Es ist ein Wunder." Die Stimme meiner Frau Anna wirkte heiser, wie durch Tränen. Ich hatte sie sehr verletzt, doch wäre der Schmerz geringer gewesen, als wenn ich sie weiter belastet hätte. Einen Moment lang hätte ich mich gerne bei ihr entschuldigt, doch ich war zu schwach.

„Wann wird es ihm besser gehen?" Sie kam näher und nahm zärtlich meine Hand. Früher hatte ich immer gelächelt, wenn sie das getan hatte.

„Wir geben ihm Morphium gegen die Schmerzen. Er hat einige innere Blutungen, ein paar Brüche und eine Platzwunde am Hinterkopf. Vielleicht wird er in einer Woche wieder in der Lage sein mit Ihnen zu sprechen." Er verstummte einen Moment. Aufmerksam versuchte ich seiner Stimme zwischen den anderen Geräuschen zu folgen.

„Wissen Sie weshalb Ihr Mann das getan hat?" Es war ihr schon immer etwas schwer gefallen damit umzugehen, dass ich krank von mir selbst geworden war.

„Mein Mann leidet schon seit einiger Zeit unter Depressionen. Eigentlich ist er in Therapie, aber seine Psychologin hat mir schon berichtet, dass er nicht kommen würde und die Medikamente nimmt er auch nicht. Ich versuche, was ich kann, nur hört er nicht auf mich." Als sie zu schluchzen begann, realisierte ich, dass ich viel mehr zerstört hatte, als beabsichtigt gewesen war.

„Er wird Hilfe bekommen, Mrs. Shinoda. Das kann ich Ihnen versprechen." Ich schluckte. Ich hatte es viel zu weit getrieben, indem ich erneut versagt hatte. Verdammt! Keinen Moment länger konnte ich dem mehr zuhören und doch war ich wie versteinert.

„Sie werden ihn sicher in der psychiatrischen Klinik besuchen können." Obwohl ich noch immer nicht hören wollte, konnte ich mir vorstellen wie sie gerade nickte und mit den Tränen kämpfen musste.

„Haben Sie seinen Ehering gefunden, Doktor?" Einen kurzen Moment erinnerte ich mich daran zurück, wie ich mitten in der Nacht aufgestanden war. Ich hatte ihr noch einmal durch das dunkle Haar gestrichen, meinen Ring abgezogen und auf den Nachttisch gelegt. Sicherlich hatte sie ihn in all der Hektik übersehen. Dann war ich zu meinem Sohn Otis ins Zimmer gegangen. Er hatte so niedlich in seiner Wiege gelegen und geschlafen. Er war noch sehr klein und würde sich wohl nicht an mich erinnern. Es hatte mir wehgetan sie verlassen zu müssen, doch ich hatte den fehlerhaften Entschluss gefasst, dass es ihnen dadurch besser gehen würde.

„Nein, es tut mir leid."

„Trotzdem Danke." Langsam ließ sie meine Hand los. Die Stimmen verschwanden, nur die monotonen Geräusche und mein eigener Atem blieben zurück.

MorgenröteOù les histoires vivent. Découvrez maintenant