Kapitel 3

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Morgenröte

Kapitel 3

„Ich habe Sie eben mit einem anderen Patienten im Speisesaal gesehen. Verstehen Sie sich gut?" Langsam wanderte mein Blick über den vertrauten Raum zurück zu dem Mann, der gesprochen hatte. Seine Haare waren blond, gelockt, etwas länger gehalten. Er hieß Dr. Baker und neben Scott wurde ich hauptsächlich von ihm behandelt.

„Bitte erzählen Sie davon. Das geht nun schon seit einem Jahr so. Irgendwann müssen Sie doch wieder zurück in Ihr Leben." Es war doch schon so lange her. Ein ganzes Jahr... Was wohl gerade meine Freunde, meine Familie machten? Sie hatten mich kein einziges Mal besucht... Ich schluckte. Wenn man glaubte, dass es nicht noch weiter geht und es trotzdem passiert, dann schmerzte es noch mehr.

„Er ist nett." Er nickte still, sah mich dann etwas ermunternd an.

„Das ist ein guter Anfang." Ich nickte ebenfalls still. Ein Anfang.

„Wie heißt er?" Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm seinen vollen Namen nennen sollte.

„Er sagte er heiße Chester Bennington." Still schrieb er sich etwas auf, wahrscheinlich seinen Namen, damit er sich nach ihm erkundigen könnte.

„Hat er schon etwas von Ihrer depressiven Störung bemerkt?" Ich nickte langsam. Er hatte bemerkt, dass ich nichts gegessen hatte.

„Er bemerkte, dass ich nicht mehr so viel esse." Wieder nickte er und schrieb. Es war wirklich gut, dass ich wieder mit ihm sprach.

„Wunderbar. Er macht sich Sorgen um Sie. Haben Sie das bemerkt?" Noch einmal wanderten meine Augen durch den Raum. Wir saßen auf zwei Sesseln, die sich gegenüberstanden, umringt von einigen Regalen mit Büchern, Zimmerpflanzen und einem Gemälde, das eine italienische Landschaft zeigte. Die Lamellen vor dem Fenster waren geschlossen, sodass ich nicht raussehen konnte und das künstliche Licht den Raum erhellte. Alles war ganz schlicht, dunkles Holz auf weißer Wand und dunkle grüne Bezüge passend zu dem dunklen Gras auf dem Gemälde. Ich sollte mich nur auf ihn konzentrieren. Der Blondschopf nahm eine Tasse Tee, die auf dem kleinen Beistelltisch neben ihm stand, als ich ihn wieder ansah. Während er trank musterte er mich wieder fordernd. Ich sollte nachdenken. Hatte ich bemerkt, dass Chester sich Sorgen um mich gemacht hatte? Eher weniger. Zumindest erst im Nachhinein war mir bewusst geworden, dass er sich für mich interessierte.

„Irgendwie schon."

„Ihre Frau macht sich auch Sorgen um Sie." Erstaunt sah ich auf. Anna machte sich Sorgen? Sie ließ doch nicht einmal ein Lebenszeichen von sich blicken!

„Wir haben monatliche Gespräche seitdem Sie hier sind. Wenn Sie sich bessern, Mr. Shinoda, dann werden Sie auch Besuch bekommen dürfen." Emotionslos sah ich ihm in die Augen. Ich freute mich, doch hatte ich keine Ahnung wie ich das hätte darstellen sollen. Anna hatte jemanden besseren als mich verdient. Nicht umsonst hatte ich ihr meinen Ehering hingelegt. Ihr Leben sollte auch ohne mich weiter gehen.

„Wieso sucht sie sich nicht jemanden, der sich besser um sie und unser Kind kümmern kann?" Baker schüttelte nur den Kopf.

„Ihre Frau liebt Sie. Können Sie etwas ähnliches ihr gegenüber spüren?" Ich wusste nicht recht, ob ich sie noch liebte wie früher. Irgendwann, noch bevor ich hierher gebracht worden war, hatte ich angefangen mich für sie und unser zu dieser Zeit ungeborenes Kind verantwortlich zu fühlen.

„Ich weiß es nicht." Verantwortlichkeit war schließlich keine Emotion.

„Und was empfinden Sie gegenüber ihrem neuen Bekannten?" Das war ziemlich einfach. Er war mir sympathisch, freundlich und er mochte mich ebenfalls. Ich war mir nur unsicher, ob ich für ihn mehr als für meine Familie empfinden konnte.

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