Kapitel 6

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Morgenröte

Kapitel 6

Mike POV

Ich blieb noch etwas alleine am Tisch sitzen und beobachtete die anderen Patienten. Manche waren deutlich älter als ich, andere schienen gerade erst erwachsen geworden zu sein. Manchmal kam es mir so vor, als würde unsere Gesellschaft sich selbst krank machen.

Wieder stocherte ich nur in meinem Essen herum und lehnte meinen Kopf auf einem Arm ab. Irgendwie vermisste ich Chester. Er meinte ich solle nicht an ihn, sondern an meine Frau denken. Doch sie war nicht hier, um mich aufzumuntern oder mir die Befehle zu geben, die ich nicht hatte, weil ich zu unentschlossen war. Und obendrein hatte er mir auch noch einen geblasen. Anna hatte das schon sehr lange nicht mehr gemacht. Ich konnte mich kaum daran erinnern, wann wir das letzte Mal gefühlvollen Sex gehabt hatten. Sie hatte immer unter mir gelegen und ich mich an ihr befriedigt. Und Chester? Er hatte gesehen, dass ich abgelenkt werden wollte und hatte es ohne eine wörtliche Bitte meinerseits einfach getan.

Missmutig schloss ich die Augen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es falsch gewesen war ihr einen Brief zu schreiben, doch der war sicher längst schon auf dem Weg zu ihr. Ich könnte einfach irgendwann mit Chester von hier verschwinden und ein neues Leben anfangen. Doch was war mit Otis? Er hätte es nicht verdient ohne seinen leiblichen Vater, ohne mich, aufzuwachsen. Es müsste doch irgendeinen Weg geben, dachte ich mir noch, doch nur Sekunden später wurde mir diese Utopie bewusst. Manchmal hatte ich das Gefühl nur noch so denken zu können.

„Wo sind die Anderen?" Etwas verwirrt humpelte ich in den Raum hinein, schloss leise die Tür und sah wie Scott an seinem angestammten Platz im Stuhlkreis saß. Langsam hinkte ich auf meinen Krücken hinein. War ich etwa zu früh? Ich starrte zu ihm, doch der Blick verriet mir eher das Gegenteil.

„Die werden heute nicht kommen." ,stand er auf und schob mir einen Stuhl zurecht, einen anderen hatte er zu einem kleinem Tischchen umfunktioniert.

„Möchten Sie etwas trinken?" Ich nickte still und ließ mich ohne eine Bitte von ihm auf dem Stuhl, den er zu Recht gerückt hatte, nieder. Sobald ich meine Krücken weg gestellt hatte, reichte er mir ein Glas Wasser. Zögerlich nippte ich kurz dran. Mich überkam schon wieder die Angst, dass jemand dort etwas hinein gemischt hatte, doch das war wohl eher falsch. Das Wasser schmeckte ganz normal. Er hatte also nichts darein gemischt. Wieso auch? Ich bekam schon Medikamente und wenn ich diese nicht nehmen würde, dann würde ihnen das auch auffallen.

„Dr. Baker hatte mich darum gebeten mit Ihnen zu reden." Er pausierte kurz und nahm ebenfalls einen Schluck Wasser.

„Ich bin mir sicher, dass er Ihnen diese Fragen auch selber stellen könnte. Viel mehr möchte ich etwas über Sie selbst erfahren. Sie sind schließlich auch nur ein Mensch, Mr. Shinoda." Ich nickte und sah an seinem Kopf vorbei nach draußen. Natürlich merkte Scott das und sah mich besorgt an.

„Wenn Sie möchten, dann können wir uns auch gerne im Park unterhalten."

„Das geht schon." ,schüttelte ich den Kopf, doch mein Blick wandte sich nicht vom Fenster ab.

„Ich rede von einem richtigen Park. Wir können auch genauso gut in ein Cafe gehen. In meiner Begleitung ist es Ihnen erlaubt das Gelände zu verlassen." Etwas verwirrt sah ich an mir hinunter. Ich trug nur Socken in Schlappen, eine verwaschene Jogginghose und ein zu großes Shirt, dazu kam noch der Morgenmantel meines Vaters, den ich mir irgendwann mal angeeignet hatte.

„Ja gut. Der Kaffee hier ist eklig." Triumphierend lächelnd stand er langsam auf und reichte mir die Krücken. Etwas zögerlich stellte ich währenddessen das Glas weg und richtete mich dann auf.

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