Kapitel 7

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Morgenröte

Kapitel 7

Ich hatte mal wieder die ganze Nacht nicht geschlafen. Das Gespräch von gestern rannte seitdem die ganze Zeit in meinem Kopf umher. Und nun schleppte ich mich in den gleichen Sachen wie gestern zum Frühstück. Meine Haare waren schon fettig, da ich mich mal wieder nicht gewaschen hatte. Das einzig erfreuliche war, dass ich Chester endlich wiedersehen konnte.

Wie sonst immer war ich recht langsam unterwegs und das Wetter war wieder schön. Schrecklich schön. Ein paar Pfleger überholten mich und ich wünschte mir einfach Regen. Ich mochte es, wenn die Tropfen an die Scheibe prasselten und ich mich dann ganz nah daran setzte. Zuhause hatte ich dann immer auf dem Fenstersims gesessen, meinen Kopf an die kalte Scheibe gelehnt und mich entspannt, oft auch mit geschlossen Augen, diesen natürlichen Trommeln gelauscht. Diese Einfachheit beruhigte mich ungemein. Nur in Wüstenregionen regnet es kaum.

Etwas erstaunt entdeckte ich Chester auf einmal auf einer der Bänke an den Fenstern des Glasganges hocken. Er hatte seine Brille abgezogen und die Augen waren verquollen. Er wirkte irgendwie abwesend, hatte seine Beine dicht angezogen und starrte einfach nach draußen. Etwas zögerlich setzte ich mich zu ihm und sah ihn an. Ich schwieg, wollte nicht all zu schnell seine Aufmerksamkeit bekommen und musterte ihn einfach weiter. Er war so dürr, dass er sehr zerbrechlich wirkte und seine Augen erinnerten mich an Knöpfe. Mir gefiel was ich sah und ich lächelte leise in mich hinein. Ich bemerkte kaum wie ich nach so langer Zeit wieder unbewusste lächelte.

„Du lächelst, Mike." Chesters Stimme war gebrochen, er wischte sich mit dem Ärmel seiner Hoodie einige Tränen weg und sah mich ebenfalls lächelnd an. Doch konnte ich gleichzeitig sehen, dass es ihm auch schmerzte.

„Alles ok mit dir?" Er sah einfach nur stumm zu mir zurück. Ich wusste nicht wie ich handeln sollte, Scott hatte mich unsicher gemacht. Seine Augen waren ganz starr und glänzten im Licht. Es wirkte so als würden in ihnen die Tränen stehen.

„Sie haben gesagt ich wäre eine Hure." sagte er und legte sein Gesicht in die verschränkten Arme. Immer wieder schluchzte er leise auf und zitterte dabei wie in Wellen, die auf seinem Rücken aufschlugen.

„Das bist du nicht." Mit diesen Worten rutschte ich ein Stückchen näher an ihn heran und legte eine meiner Hände auf seine Schulter.

„Aber ich hab dir in der Bücherei..." Gepeinigt brach er ab und versank noch mehr in seiner zu großen Jacke. Er wirkte jämmerlich, was mich frustrierte. Zum Glück waren wir gerade allein und ich konnte noch ein Stück näher zu ihm rücken, sodass ich schon fast so nah war, dass ich ihn hätte umarmen können.

„Trotzdem. Ich bin mir sicher du machst es nicht mit jedem, der dir über den Weg kommt." ,flüsterte ich leise, so dass es niemand hören konnte und streichelte immer weiter vorsichtig seine Schulter.

„Aber die mit mir." ,murmelte er leise und sah mich dabei durch die leicht rötlichen Augen an. Wieder rannen mehr Tränen heraus, während er mit seinen Händen an den Bügeln seiner Brille herumspielte. Schließlich senkte er seinen Kopf und die Tränen tropften auf seine Hose.

„Wieso sagst du denen nicht, dass du das nicht willst?"

„Die hören eh nicht." Seine Antwort kam überraschend schnell.

„Ich höre auf dich." Ich nahm zärtlich eine seiner Hände. Ich wollte, dass es ihm besser ging und doch war mein Gesichtsausdruck sicher furchtbar. Furchtbar neutral.

„Wirklich?" Chester lächelte zwischen den Tränen.

„Natürlich." ,zwang ich mir ein Lächeln auf, das sogar ernst gemeint war. Und kaum hatte ich mich versehen war er auf einmal ganz nah. Seine Finger hatte er auf meine Wangen gelegt und küsste mich schüchtern. Mein Lächeln wurde ungelogen und ich erwiderte seine Berührungen. Es fühlte sich wundervoll an. Seine Lippen waren wunderbar weich und unvergleichlich warm. Wie ich mit meinen Lippen fühlen konnte, wirkten sie gar nicht so groß, wie sie in Wirklichkeit aussahen. Als wir uns dann wieder lösten schaute ich konzentriert auf diese schmalen Striche. Sie hoben sich leicht von seiner Haut ab, waren ein klein wenig heller und hatten einige leichte Striche, so als wären sie schon mal aufgeplatzt gewesen .

MorgenröteWhere stories live. Discover now