Kapitel 5

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Morgenröte

Kapitel 5

Ich konnte kaum schlafen. Noch immer wartete ich darauf, was Anna antworten würde, obwohl ich mir sicher war, dass Amber ihn erst morgen einwerfen würde.

Chester und ich hatten noch einige Zeit geredet, er hatte mir von Halluzinationen beim Drogenkonsum erzählt und auch davon wie diese wirken würden. Er hatte in seinem Leben so viel mehr erlebt als ich. In dem Sinne, dass er schlecht gelebt hatte. Alle diese Leute, wie ich, die Tag für Tag immer wieder zur Arbeit gehen und immer wieder das Gleiche sehen. Er dagegen hatte seinen Körper bis an die Grenzen gebracht und nichts war mehr normal gewesen.

Und auf einmal kam mir diese Idee! Wieso schrieb ich nicht darüber? Über einen Mann, wie Chester, der den Sinn des Lebens durch diesen krankhaften Lebensstil entdeckt. Wie der Sinn des Lebens in einer Nudelsuppe.

Da ich sowieso nicht schlafen konnte, stand ich auf, humpelte ohne die Krücken unter Schmerzen zum Schreibtisch und setzte wieder den Stift auf das Papier. Der Raum war dunkel, durch den Vorhang schien der Lichtschatten des Mondes. Ich hatte mich in dieser Nacht schon daran gewöhnt und konnte nun alle verschiedenen Teile des Raumes gut erkennen. Wenn ich schrieb, dann würde ich allmählich davon ablassen können, dass alles viel zu schwer war. Auf Papier würde diese Zerrissenheit erhalten bleiben können.

Wieder legte sich meine Hand auf meinen Schoß. Ich wusste nicht recht, was ich schreiben oder sagen sollte. Noch immer spukte im meinem Geist, wie er mir einen blies. Seine Lippen so eng und warm, er war so atemberaubend.

Meine Hand lief zurück zum Papier. Chester solle meine Hauptperson nicht heißen. Vielleicht sollte ich ihn einfach namenlos lassen, diese Einfachheit, die für jede Person stehen konnte, würde die beste Wirkung erzielt werden. Am besten sollte ich aus der dritten Person schreiben. Über mich in der Form von Chester. Hin und her gerissen von der Realität und der Fiktion, die er lebte.

Die meisten Menschen suchen in ihrem Leben nicht nach dem Grund. Sie alle tun jeden Tag auf neuem das Gleiche. Man sagte, dass jeder Tag einen neuen Anfang bringen würde, doch sie nutzen ihn nicht. Sie stehen auf und gehen zu ihren Jobs ohne auch nur daran gedacht zu haben, dass sie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit sterben könnten und vielleicht Zuhause sicherer sein würden.

Zwischen diesem Rhythmus schien es nur einen einzigen Menschen zu geben, der sich diesem wiederwarf. Das einzige, was es in seinem Leben gab war der Weg zum Dealer und das Nachladen der Spritzen. Wie mit einer Waffe drückte er die Kugeln in sich. Manchmal lächelte er noch, fuhr sich mit seiner Hand durch das lockige Haar und fragte sich immer wieder, weshalb die Menschen so lose leben konnten. Für ihn waren sie lose, sie waren eingebunden in ein System, dass diese, sobald sie nicht mehr in der Lage dazu wären ihnen zu helfen, links liegen lassen würde. Ihn hatten sie schon vergessen. Er wusste es nur nicht, denn längst hatte er aufgehört diese für real zu halten.

Wieder ließ ich meine Hand sinken. Was sollte ich nun schreiben? Ich wollte nicht zu viel über ihn preisgeben. Chester war ein Individuum, ein Mensch, den ich eigentlich gar nicht benutzen wollte.

Erschöpft legte ich meinen Kopf auf meine Arme, wahrscheinlich zerknitterte ich gerade mein Manuskript, doch es war mir verdammt egal. Ich konnte nicht schreiben, das ging nicht. Ich musste weinen. Kalt liefen die Tränen über meine heißen Wangen auf den Papierstapel. Ich war so scheiße.

Die Briefe an Anna, wenn ich denn Antwort bekommen würde, sollten reichen um mir die Seele leer zu schreiben.

Langsam setzte ich mich wieder aufrecht hin und legte das Blatt weg. Ich eröffnete einen zweiten Haufen, links das beschriebene Papier und rechts mein angefangener Block. Wieder setzte ich meinen Stift auf das Blatt und sammelte meine Gedanken. Doch es kam nichts. Wieder holte ich mein angefangenes Blatt zurück.

MorgenröteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt