Kapitel 16

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Sayo beugte sich über den alten Mann, der auf seinem Futon lag.

„Kenshin, warum?", schluchzte sie, als sie sich in seinem Hemd festkrallte.

„Ach, Sayo", hustete er und richtete sich auf. „Ich bin alt, ich werde sterben. Dann werde ich endlich wieder bei meiner geliebten Yukiko sein."

„Nein, nein, nein!", stieß sie verzweifelt hervor und presste die geballten Fäuste auf die Knie. „Du kannst mich doch nicht allein lassen."

„Mein geliebtes Kind", murmelte er zärtlich. „Du musst dein Leben leben, du kannst dich hier nicht länger verstecken. Ich will, dass du fort gehst, wenn ich tot bin." Er hustete und presste ein Tuch vor den Mund. Keuchend ließ er sich zurück in die Kissen fallen. „Geh heim, bitte. Ich möchte nicht, dass du hier bleibst."

Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Kenshin ...", hauchte sie. „Was ist mit deinen Tieren, deinen Feldern?"

„Die habe ich schon längst dem Dorf vermacht", antwortete er unwirsch und wischte sich den Mund ab.

„Ohne mich zu fragen?", flüsterte Sayo und schaute ihn traurig an.

„Ich will dir nichts hinterlassen, das dich dazu verleitet hier zu bleiben." Er hustete wieder und spuckte dabei Blut.

„Kenshin!", stieß Sayo entsetzt hervor.

„Du solltest jetzt rausgehen, meine Liebe." Daichi, der Dorfarzt, beugte sich vor. „Es geht zu Ende", murmelte er. Sayo schloss bei seinen Worten gequält die Augen.

„Ich danke dir, Kenshin. Für alles was du für mich getan hast." Sie nahm seine alte, faltige Hand. „Du warst mir ein Vater, ein Freund für eine kurze Zeit. Ich bin froh, dir begegnet zu sein." Sie schwieg einen Moment.

„Es gäbe noch so viel zu sagen, aber ... bei Kami ... mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was ich empfinde." Sie schluchzte und drückte zärtlich seine Hand.

„Ich verstehe dich, Sayo." Er blickte sie liebevoll an. „Wirst du einem alten Mann seinen letzten Wunsch erfüllen?"

Sie schloss erschöpft die Augen. Zuviel war in den letzten Wochen und Monaten geschehen, seitdem Kenshin in dieses Unwetter geraten war und die Nacht draußen verbringen musste. Er hatte sich nicht mehr von seiner Lungenentzündung erholt und würde nun sterben.

„Ja", hauchte sie leise. „Ich verspreche dir, von hier fortzugehen."

Erleichtert seufzte Kenshin auf. Nun war ihm eine Last von den Schultern genommen worden. „Dann kann ich ja jetzt in Frieden sterben." Er schloss die Augen. Sayo legte seine Hand auf seinen Bauch und beugte sich vor, um ihm einen Kuss zu geben. Dann flüsterte sie:

„Mein wahrer Name ist Uchiha Kasumi."

Kenshin riss überrascht die Augen auf und atmete rasselnd ein, dann lächelte er sanft. Er würde dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen.

Sayo stand auf und blickte kurz den Arzt an, dann verließ sie das Haus. Die Holztür knarrte protestierend, während sie aufgerissen wurde und quietschte in den Angeln als Sayo sie einfach los ließ.

Sie rannte. Sie rannte, soweit sie konnte; dann ließ sie ihren Schmerz raus. Nie wieder würde sie weinen, nie wieder würde sie jemanden so nah an sich heranlassen, nie wieder diesen Schmerz spüren. Sie sank zu Boden und hielt sich an den Schultern fest.

Kenshin! Warum? Wieso tat man ihr schon wieder so weh?

Sayo wiegte sich hin und her, die Tränen liefen ihr stumm über die Wangen und der Schmerz fraß sich tief in ihr Herz. Erschöpft wischte sie mit zitternder Hand die Tränen weg. Sie musste zurück.

Ich wollte niemals von euch fortWo Geschichten leben. Entdecke jetzt