Der Junge in der Hütte

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Am Horizont schlagen die Flammen hoch in den Himmel, während sie die Stadt der alten Könige verschlingen. Sie stehen hell und beißend gegen den dunklen Nachthimmel, wie ein endloser, tödlicher Sonnenuntergang.

Taris ist nur ein Junge, in dessen Augen sich das Feuer spiegelt, einen halben Tagesmarsch entfernt, dichter Wald und ein steiler Anstieg zwischen ihnen. Er hört die Rufe um sich, die Schreie, das Wehklagen. Ihr Dorf ist fern den Kämpfen der königlichen Armee und ihrer Angreifer, auf der unwirtlichen Seite des Berges, kaum noch im Schatten der Hauptstadt, aber viele von ihnen verdienen dort ihren Unterhalt, suchen dort ihr Glück, dienen in der Armee. Oh, so viele dienen seit den letzten Wochen in der Armee. Die meisten von ihnen werden den Flammen dort oben zwischen Bergspitze und Nacht nicht entfliehen.

Man flüstert von dem, was kommen wird – von den fremden Reitern, die beim ersten Morgenlicht ausreiten und jedes Dorf durchsuchen werden, nach Verrätern, nach Kämpfern, nach Beute. Die fremden Reiter und ihr Herr kennen wenig Gnade, heißt es im Dorf. Der König ist gefallen, sagen sie, sein Schloss eingenommen. Jetzt wird alles anders und keiner ist sicher.

Taris ist ein Junge, zehn Jahre alt, dessen Vater nicht aus der Stadt zurückgekehrt ist und dessen Mutter vor den Hufen fremder Pferde gestürzt und nicht mehr aufgestanden ist. Gestern sind sie nur zwischen den Häusern hindurchgesprengt, zielstrebig und erbarmungslos hoch zur Hauptstadt, so viele dass die Wege nichts mehr sind als ein Muster von Hufabdrücken. Die Reiter, die zurückkommen, unbekannte Zeichen auf ihren Umhängen und Schilden, sind nur zu viert mit ihren Fackeln. Taris ist ein Junge, der das Feuer der Stadt weit vor sich sieht und das Feuer der fremden Reiter so nah, und der nicht anders kann als fortzurennen. Er läuft die Wiese hoch zum Wald, auch wenn er dem Feuer entgegenkommt, weil es näher ist, weil er verzweifelt den Schutz von unzähligen Bäumen und versteckten Senken sucht und sich im leeren Haus seiner Eltern ausgeliefert vorkommt.

Ein Reiter hebt eine Armbrust und senkt sie wieder, denn er ist nur ein Junge.

Er ist nur ein Junge, der sich in unheilvoll orange glimmender Nacht durch den Wald tastet, hin zu der verlassenen Köhlerhütte. Die starken Köhler haben sie als erstes geholt, damit sie das Reich verteidigen, das weiß Taris ebenso wie er den Weg weiß, von den vielen Ausflügen mit seinem Vater. So sehr wünscht er sich dort dem fernen Rufen und Weinen zu entgehen, dass er selbst über den sicheren Weg stolpert. Er ist ein Junge, der keine Angst haben will und sie doch nicht abschütteln kann.

Wenig geschieht und alles geschieht in jener Nacht, die vom tödlichen Sonnenuntergang so weit und hell erleuchtet wird, während Taris rennt und hofft, fern im Wald in der Köhlerhütte Schutz zu finden. Die Augen tränen ihm vom beißenden Ruß und Angst und Hilflosigkeit und sein Atem beruhigt sich nicht.

Er will nur in die Hütte, so schnell es geht, und er sieht nicht den schwachen Lichtschein hinter den zugezogenen Vorhängen und hört die leisen Stimmen ebenso wenig. Als er die Tür öffnet und die Hütte betritt, drückt ihm kaltes Metall in den Hals.

„Wie hast du uns gefunden?", fragt der Mann grimmig, das Schwert fest in seiner Hand. Sein Blick wandert abfällig über Taris, aber er weicht nicht zurück, zögert keinen Augenblick in seiner Drohung. Von zwei Laternen und der letzten Glut im Kamin beleuchtet glänzt sein Kettenhemd und das silber gestickte Emblem des Königs auf seinem Wams darüber, seine Augen sind voll entschlossenem Stolz.

Es ist keiner der fremden Reiter, der nur Zentimeter davor ist Taris' Leben zu beenden, sondern ein königlicher Ritter.

„Er ist nur ein Junge, Frodwin", sagt ein zweiter Ritter, zusammengesunken neben dem Feuer. Sein Atem geht so schwer und rasselnd, dass es Taris allein vom Zuhören in der Brust schmerzt. Die Ringe seines Kettenhemdes schimmern rot wie Rubine an seiner Seite, Haare fallen ihm wild ins Gesicht, sein Bart starrend vor Schmutz. Er klingt müde, schicksalsergeben.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt