Der Mann und die letzten Schritte

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Durch den Wald, in dem Nemeris' Hütte einmal stand, führt es sie nicht. Es wäre ein Umweg von mehreren Tagen, genug, dass die zurückgelassene Armee hinter ihnen aufschließen und ohne sie in der Stadt der Alten Könige ankommen könnte, genug, dass sie ihren Prinzen nicht finden und die neue Hoffnung verlieren würden.

„Es soll mir nur recht sein", sagt Altair bestimmt. „Mit der Hütte verbinde ich nicht viel mehr als Schwäche und Angst und Dunkelheit. So, wie ich dort war, will ich Calred nicht entgegen treten."

Taris nickt und versteht und fasst ihn fest und beruhigend am Arm, weil er genau weiß, dass der Prinz sich auch ohne die Hütte gerade genau so fühlt.

„Du bist größer und stärker als damals, und du bist nicht mehr auf der Flucht", erwidert er. „Das letzte Mal tatest du gut daran, vor ihm Angst zu haben. Dieses Mal muss er vor dir Angst haben. Vor Euch, mein Prinz."

„So fühlt es sich nicht an", sagt Altair dumpf. „Ich kann meine Glieder kaum spüren, so sehr erfüllt die Angst meine Sinne. Meine Träume sind voll von den Monstern von damals und jede Nacht reißen sie mir das Fleisch vom Leib, und wenn ich meine, alles ist vorüber, dann sehe ich die tausenden Augenpaare hinter mir und die bodenlose Enttäuschung in ihnen, wenn sie einer nach dem anderen ausgelöscht werden."

Er zittert.

„Ich bin vielleicht ein Prinz, Taris. Aber ich bin kein Held."

Taris versteht, in diesem Moment. Er versteht alles, was ihnen bisher wiederfahren ist, alles was er selbst erlebt hat und was der Prinz erlebt hat, und warum es so fest miteinander verbunden ist. Er versteht, warum Nemeris so gelächelt hat und warum Ilfrid ihn Vergessene Worte gelehrt hat, warum der König sie verraten hat und die Wölfe nicht bis zur Höhle hochgekommen sind. Er versteht seine Fieberträume und seine Zweifel, seine Hoffnungen und Wünsche und Sehnsüchte. Er versteht Eiandas Ärger und jede einzelne Schweißperle auf der Stirn des Prinzen, er versteht die Hoffnung der Männer hinter ihnen und die Verwüstung der Länder.

Und, wenn er alles zusammen nimmt, dann versteht er, warum sie jetzt genau hier sind, der Prinz und er, allein so kurz vor dem Ende.

„Kein Mann wird ein Held, der sich selbst dazu im Stande fühlt", sagt er und meint unendlich mehr damit.

***

„Ich höre, du hast endlich begriffen", begrüßt ihn Eianda im Traum. „Du hättest mit mir kommen können und lernen, wie man die Welt heilt."

„Nein", sagt Taris und er fühlt sich leicht dabei. Ein Atemzug und sie ist wieder fort, sein Schlaf schwer und traumlos. Nur die Lichter begleiten ihn bis in den Morgen.

***

Der Prinz zittert nicht mehr und sein Atem hat sich beruhigt, aber über den festen Griff seiner Hand am Schwert kann er Taris nicht hinweg täuschen.

„Wir sind bald da", stellt er fest. „Nur noch vier Tagesmärsche, wenn uns nichts aufhält."

Er spricht von Erinnerungen aus einer Zeit, bevor sie sich kannten und es fühlt sich genauso seltsam wie passend an.

„Hast du Angst, Taris?"

Die Frage kommt unerwartet, denn ihre Antwort ist nichts, was gerade zählt. Dennoch denkt Taris nach, und wenn es nur ist, um Altair auf andere Gedanken zu bringen und ihn abzulenken von der Unmöglichkeit vor ihnen.

„Nein", sagt er schließlich, weil er nicht lügen kann. „Mein Leben ist nicht das, worum es hier geht."

„Aber mir ist es wichtig", sagt der Prinz mit einem schmalen Lächeln. „Also geb Acht, dass dir nichts passiert, Taris."

Taris erwidert seinen Blick voller Ernst.

„Nur, wenn Ihr mir dasselbe versprecht, mein Prinz."

„Selbstverständlich", sagt Altair und danach lockert sich auch sein Griff.

***

Eigentlich sollten sie warten, bis die Armee zu ihnen aufgeschlossen hat und die Stadt belagern kann, bis all die neuen Berater und Generäle und Kämpfer gekommen sind um den Prinzen bei seinem Kampf beizustehen.

Sie sehen die Stadt vor sich auf dem Berg und wissen beide, dass es nur noch einen Tag brauchen wird, bis sie da sind. Und einen Tag, einen anderen Pfad entlang, um zu Taris' altem Dorf zu kommen.

Damals sind sie erst nach Süden geflohen, jetzt kommen sie direkt aus dem Osten, ohne sich herangeschlichen zu haben, ihr Schutz allein dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf andere Gebiete gerichtet ist und keiner wirklich glauben will, dass es wirklich noch einen Prinzen gibt da draußen, der bereit ist zu kämpfen. Einen Prinzen, der nicht auf seine Armee warten wird, bevor er kommt.

„Wir sind bald da", sagt der Prinz wieder, und wiegt nachdenklich den Kopf. „Dort, wo es angefangen hat. Zurück."

Taris kennt diese Wälder. Sie sind ihm schmerzhaft vertraut, fast so vertraut wie das Gesicht des Prinzen, auch wenn sie sich verändert haben in den vielen Jahren, die er fortgewesen ist. Alte Bäume sind gefallen und junge Bäume in die Luft geschossen, Brombeersträucher vertrocknet und Brennnesseln wuchern an ihrer Stelle.

„Wir sind schon jetzt da", korrigiert er ihn und fühlt sich dabei beobachtet von dem Schloss, das noch über den Dächern der Stadt thront, seine Steine neu und hell und rot glänzend im Abendlicht. Morgen könnten sie dort sein, wenn sie sich beeilen.

Taris will sich nicht beeilen.

***

Sie schlafen wenig in dieser Nacht. Die Zweifel des Prinzen bäumen sich noch einmal auf, wehren sich gegen die sanften Vergessenen Lieder und die Worte des Zuspruchs, gegen die Entschlossenheit des Prinzen selbst, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen.

Taris bleibt wach mit ihm und sie liegen mit offenen Augen nebeneinander und starren zum Himmel, während sie sich alles gegenseitig zuflüstern, was gesagt werden muss. Die Männer heute kennen ihre Pflicht. Die Jungen von damals wollen die Orte nicht wiedersehen, die ihnen so viel Leid beschert haben.

„Was, wenn ich scheitere?", fragt der Prinz. „Was, wenn sie mich gar nicht erst in die Stadt lassen? Was, wenn mich die Wachen finden, bevor ich Calred erreiche? Was, wenn mir die Schwerthand einfriert, wenn ich ihm endlich gegenüberstehe? Was, wenn ich sie alle enttäusche?"

„Das werdet Ihr nicht", erwidert Taris ruhig. „Denn Ihr kämpft nicht für sie. Ihr kämpft für Euch selbst und gegen das Gift, dass sich irgendwo in den äußersten Spitzen Eurer Adern festgesetzt hat und nicht gehen kann, bis sein Giftmischer fort ist."

„Es ist so selbstsüchtig", sagt der Prinz.

„Es ist der einzige Weg", sagt Taris und drückt seine Hand und hofft, dass der Prinz durch sie nicht sein eigenes pochendes Herz spüren kann. „Und es ist der Grund, aus dem es gelingen wird."

In seinen Knochen spürt er tausende Schritte auf festem Boden, unübersichtliches Stimmengewirr und einen einzigen Gedanken, gedacht von tausenden Köpfen. Es ist Zeit. Dicht hinter ihnen folgt die Armee, aber nur einer kann die Wende bringen, nur jemand, der so viel erlebt hat und so viel verpasst hat wie der Prinz. Nur jemand, der sich so darauf konzentrieren kann, wofür er kämpft, kann Erfolg haben.

„Was wäre, wenn wir einfach warten, bis er stirbt?", fragt der Prinz leise. „Was, wenn wir umkehren und uns eine Hütte suchen und warten, bis er stirbt, und dann, wenn Calred stirbt, dann holen wir unser Land zurück."

Er weiß, dass es keine Wahl ist, die sie haben und Taris weiß es ebenso, aber für einen Moment verdrängt der Gedanke die dumpfe Übelkeit, die im Angesicht der Herausforderungen vor ihnen in seinem Magen steht.

„Nur weil etwas richtig ist, ist es nicht einfach", sagt er und will sich damit selbst genauso erinnern wie den Prinzen. Und wie er es sagt, da gehen ihm wieder die Worte von Eianda durch den Kopf, ihre richtigen Worte, nicht die Traumworte, darüber, wie er niemand ist, der Schlachten schlägt.

Wie schwer seine Aufgabe ist, das wird ihm erst jetzt wirklich klar, aber dem Prinzen sagt er nichts davon. 

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now