Der Jüngling und sein Sommer

567 95 9
                                    


Wenn er daran denkt, wie viel Gold er aus den Truhen genommen hat, schämt sich Taris. Doch dann spürt er die starken Muskeln des Pferdes unter sich und sieht das anerkennende Funkeln in den Augen des Prinzen darüber, wie ausdauernd die Tiere sind, die teuersten, und erinnert sich, dass es der einzige Weg war, so schnell und so einfach wie möglich davon zu kommen.

Wer genug Geld mitbringt ist vor Fragen sicher.

Sie treiben die Pferde an bis sie durchnässt sind von Schweiß und dann noch etwas weiter. Sie betreten Wirtshäuser spät abends und brechen mit der aufgehenden Sonne wieder auf. Es ist riskant, das weiß Taris wohl, und er ist sich sicher dass Ilfrid es nie zugelassen hätte, aber die Stimme des Prinzen färbt sich immer mehr im warmen Dunkel eines Mannes und an seinem Kinn sprießen erste Barthaare. Wenn sie sich nur unauffällig genug verhalten, hofft Taris, dann wird ihn schon niemand erkennen – dann ähnelt sein Gesicht den Bildern genauso flüchtig wie das so vieler anderer blonder Jünglinge.

Blond.

Blond, das ist hell, denkt Taris, und er hat nicht viel Erfahrung mit Stoffen oder Malerei oder Färben, aber seine hellen Hemden waren immer die, die am schnellsten schmutzig und dunkel waren. Es muss einen Weg geben, wie man auch Haare einfärbt, und wenn der Prinz sein Haupt im Schlamm wälzen muss. Wenn er braunhaarig ist, dann sind sie so gut wie sicher. In diesem Königreich wird man nach einem Jüngling suchen, nicht nach einem Jungen wie es Calreds Kopfgeldjäger tun, aber sie werden nach einem blonden Jüngling Ausschau halten.

An dem Abend, an dem ihm dieser Einfall kommt, legt er sich endlich wieder mit einem Lächeln schlafen.

***

Ob es ihr wildes Reiten ist, ihre kurzen Nächte oder die Haare, für die Taris mit viel Ausdauer, vagen Worten und unbestimmten Fragen einen Beutel braunes, orientalisches Farbpulver auftreiben kann, ist schwer zu sagen. Aber sie bleiben unbehelligt, den ganzen Weg über bis sie die Grenze erreichen.

Taris ist stolzer darauf als jemals zuvor, als sie die lustlosen Wachsoldaten am Posten zwischen den Königreichen passieren, ohne dass sie einen zweiten Blick an sie verschwenden.

„Und jetzt?", fragt der Prinz leise, als sie eine Weile langsam weitergeritten sind, den Weg durch den Wald immer weiter gen Norden. „Wohin führt es uns jetzt?"

Sein Blick ruht erwartungsvoll auf Taris und der Stolz von vorher ist wie weggeblasen. Sie aus einem Königreich hinausbringen, das konnte er, die Gedanken scharf und schnell im Angesicht des drohenden Verrats. Aber er ist nicht Ilfrid, er kennt die Namen der Länder nicht, durch die sie gekommen sind und die sich in der Nähe finden, er weiß nicht, welche Richtung sie einschlagen sollen. Der Winter geht rasch dem Ende zu und ein langer Frühling, Sommer und Herbst liegen vor ihnen, doch was wenn er sie unvermutet dorthin lenkt, wo sie im folgenden Winter in Eis und Schnee jämmerlich erfrieren werden? Was, wenn er sie in ein noch feindlicheres Reich führt, oder gar zurück in die Arme ihrer Verfolger, weil er sich mit den Himmelsrichtungen vertut?

Er würde nichts lieber tun, als sich im Zimmer des nächsten Wirthauses zu verkriechen und nicht mehr hinauszukommen, bis Ilfrid wieder vor ihrer Tür steht, herangetragen von Vergessener Kunst. Er will sich in die Ecke kauern und den beruhigenden Liedern seiner Mutter lauschen, wie als kleiner Junge, wenn ihn die Gewitter zu sehr erschreckt haben.

Aber Taris ist kein Junge mehr und mit jedem Tag kommt er mehr in das Alter, in dem ihn keiner mehr fragen wird, ob er der Verantwortung gewachsen ist. Je früher er sich ihr stellt, desto eher wird er vielleicht hineinwachsen.

Er wendet sich zum Prinzen und holt tief Luft.

„Weiter."

***

Ihre Reise plätschert dahin wie ein leiser Bach im Frühsommer, träge und ruhig und mit Schlenkern und Wendungen und Stromschnellen, die schon von weitem überschaubar sind.

Manchmal vergisst Taris, warum sie nicht einfach anhalten können – ein altes Bauernpaar ohne eigene Kinder treffen, ihnen zur Hand gehen und sich von ihnen aufnehmen zu lassen, eine verlassene Hütte im Wald finden wie damals, nur dass sie dieses Mal in der Nähe eines Dorfes sein werden jagen gehen und Hirsche verkaufen und keiner auf die Idee kommt, dass sie irgendwo gesucht werden könnten.

„Ilfrid wird uns irgendwann wiederfinden", erklärt er dem Prinzen am Feuer seine Gedanken. „Er hat die Vergessene Kunst, nicht wahr? Wir könnten uns einfach in Ruhe irgendwo niederlassen, bis er kommt, und Ihr übt Euch im Holz hauen. Wir müssen nicht immerzu weiterziehen."

Der Prinz lächelt ihn an, vertrauter, als es einem einfachen Jungen wie Taris zugestehen sollte. Die Abende sind lang und warm, die Nächte freundlich und einladend für Scherze am Feuer und gemeinsames Baden in versteckten Quellen, für Schwertübungen und Wettrennen, durchschnitten von Lachen und dem unvermeidlichen Gefühl von Kameradschaft.

Taris würde es Freundschaft nennen, wenn es nicht so furchtbar absurd wäre, einen Prinzen und einen Dorfjungen Freunde zu nennen. Obwohl es gar nicht mehr so absurd klingt während sie sich lachend gegenseitig mit klarem Quellwasser vollspritzen.

***

„Manchmal höre ich im Schlaf meine Mutter schreien", sagt der Prinz ihm irgendwann, als der Sommer sich schon dem Ende zuneigt. „Ich wünschte, ich hätte sie retten können."

„Ich kann mich kaum noch an meine Mutter erinnern", gibt Taris zu und ihre Blicke treffen sich in einem stillen Verständnis, das alles, was sie die nächsten Tage tun, tausend Mal bedeutungsvoller zu machen scheint.

Über ihre verlorenen Familien reden sie nicht noch einmal.

***

Sie liegen im Gras, Seite an Seite, fest in ihre Decken gewickelt während das Feuer schon längst wieder erloschen ist und sie in jeder anderen Nacht längst eingeschlafen wären. Über ihnen stehen die Sterne hell und klar am Himmel und immer wieder sausen sie mit langem Schweif schnell durch die Dunkelheit und ziehen weiße, rasch verblassende Streifen.

„Ich wünschte, ich wüsste, wohin wir gehen können", sagt der Prinz mit belegter Stimme.

„Das ist nicht Eure Aufgabe", sagt Taris sofort. „Ihr müsst nur überleben, mein Prinz."

„Und dann?", fragt er seufzend. „Was mache ich, wenn ich überlebt habe? Bis zum Ende meines Lebens werde ich nichts tun als überleben, wenn es so weiter geht."

Taris bleibt still.

„Ich weiß wohl, dass wir nirgendwo auffallen dürfen, damit Calred uns nicht auf die Schliche kommt", fährt der Prinz fort und rollt sich hoch, um Taris ansehen zu können, während er spricht. „Und dass wir dann am sichersten sind, wenn wir uns immer weiter bewegen und nirgendwo bleiben, wo uns jemand finden und verraten kann, ohne dass wir es bemerken. Aber ich wünsche mir so sehr, dass wir einmal irgendwo bleiben können."

Taris leckt sich über seine spröden Lippen.

„Ich weiß", sagt er leise und sieht weiter starr nach oben zum Himmel. Ob die Sterne sie beobachten? „Ich kenne das Gefühl. Manchmal träume ich von der Zeit davor und wenn ich aufwache, zieht mich alles zurück, als würde ich unser Dorf so vorfinden wie vor allem."

„Du hast nie darüber gesprochen", sagt der Prinz tonlos und Taris kann nicht erkennen, wie er die Worte meint. Es ist ihm fast, als wäre er verletzt.

„Wozu darüber sprechen?", gibt er mit trockenem Mund zurück. „Wir wissen beide, dass wir die Vergangenheit nicht zurückholen können, mein Prinz."

Dieses Mal ist es der Prinz, der lange schweigt. Er seufzt, legt sich wieder zurück ins Gras und für eine Weile hört Taris ihn nur atmen. Fast denkt er, der Prinz ist endlich eingeschlafen, als seine Stimme noch einmal ertönt.

„Altair", sagt er fest. „Nenn mich Altair, Taris."

„Altair", wiederholt Taris flüsternd, und vielleicht ist es das Wispern der Sterne und ihrer weiten Flügel über ihm, das ihm das Gefühl gibt, den Namen dahinsprechen zu können, als sei der Prinz genauso gewöhnlich wie er selbst.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt