Der Junge auf dem Weg

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Vergessene Kunst, so nennt man es gemeinhin, jene Fähigkeit, mit Worten ungeahnte Kräfte zu beschwören. Einst war sie Waffe, Hilfe, Hoffnung. Ganze Kriege hat man mit ihr geführt und gewonnen, Schicksale bestimmt, bis der Ruhm in einen Fluch umgeschlagen ist und ihre Anhänger gejagt, verfolgt und getötet wurden, das alte Wissen zerschlagen und zerstreut. Die vergessene Kunst, Zauberei, Taris kennt sie nur aus Spukgeschichten und leisen Gerüchten.

Ilfrid sagt kein Wort dazu, genauso wenig wie die Ritter. Die Nacht um sie flimmert rot und orange und ist an keinem Flecken des Waldes ganz still, während sie über überwucherte Pfade eilen, hinter Büsche ducken und an Felsen pressen, wenn die Reiter Calreds zu nahe kommen. Einmal hebt Ilfrid die Hand, als der Wald um sie flach und licht bleibt und lodernde Fackeln auf sie zutanzen, und die Gruppe Männer zieht nur wenige Schritte von ihnen vorbei, ohne sich nach ihnen umzublicken. Der Mann keucht danach wie nach einem Dauerlauf.

Taris flüstert Frodwin die Abzweigungen zu, bevor er mit gezücktem Schwert vorausgeht und fühlt sich fast zu überwältigt, um ihm zu folgen. Der Lederbeutel zieht ihn dem Boden entgegen und ermüdet seine Füße, er hat zu wenig geschlafen und gegessen und immer wieder hört er Hilfeschreie, wo keine Menschen sind. Selbst Leanders ermutigende Hand zwischen den Schultern kann ihm kaum die Kraft geben, mit den Männern mitzuhalten, obwohl zwei von ihnen verletzt sind und einer allein die Aufgabe schultert, sie rechtzeitig vor ihren Feinden zu warnen.

Feinde, denkt Taris benommen. Wäre er im Dorf geblieben, geduckt und unterwürfig, so wären die fremden Reiter jetzt seine Herren und in wenigen Tagen nur würde die Sonne aufgehen und alles wäre wie vorher. Nur ohne seine Eltern. Er muss dem Gewaltmarsch der Ritter danken, dass ihm kaum die Konzentration für Erinnerung bleibt und noch viel weniger für Gedanken an die Zukunft.

Nur wenn sie schnell genug gehen und weit genug kommen, können sie rasten, das hat Taris längst verstanden, und so zwingt er zwischen feindlichen Soldaten, wortkargen Begleitern und schimmernden Strahlen Vergessener Kunst seinen Körper weiter nach vorne.

Ilfrid ist nahe bei ihm, den bewusstlosen Jungen auf den Armen, genauso keuchend und stolpernd wie Taris unter seinem Gewicht. Taris wünschte, sie könnten tauschen, der andere Junge und er, kleiner und dünner wie er ist, leichter zu tragen. Dann müsste er selbst nur die Augen schließen und sich in Sicherheit tragen lassen. Aber es ist nicht mehr als ein flüchtiger Gedanken, kann nicht mehr sein – wäre der andere Junge bei Bewusstsein und Taris nicht, gäbe es keinen Grund ihn mitzunehmen.

Also denkt er an den Weg, an Osten und an die Dunkelheit, die blau und kalt zurückkehrt und sich dann in feuchtem Grau aus den Blättern über ihren Köpfen löst und entschwebt.

Sie legen eine kurze Rast ein, während die Sonne ihr sanftmütigeres Feuer langsam über die Hügel sendet, weit vom dichten Netz der Patrouillen um Hauptstadt und Schloss, aber noch lange nicht weit genug. Die Schreie des Volks mögen verstummt sein, aber die Gefahr kriecht lauernd weiter, versteckt sich in den Schatten und bläst ihren faulen Atem in ihre Nacken.

Frodwin umrundet unruhig die Senke, in der Ilfrid den bewusstlosen Jungen gebettet hat und schnaubt missbilligend, als er sieht, wie Taris vor Erschöpfung die Augen zufallen. Leander schenkt ihm ein schwaches Lächeln, gegen die Erde gelehnt, und lässt sich kostbares Trinkwasser über das Gesicht rinnen. Ilfrid kommt genauso wenig zur Ruhe wie Frodwin. Er arbeitet rasch und geübt mit seinen Kräutern und Wickeln und Tränken, und dazu murmelt er mehr Vergessene Wort als zuvor.

„Vielleicht wird er aufwachen", sagt er, als er fertig ist. „Solange ich unterwegs meine Kräuter aufstocken kann."

„Ich kann Euch helfen", entfährt es Taris, obwohl sie bald die Wälder seiner Kindheit verlassen haben und er genauso verloren in der Fremde sein wird wie sie, nutzlos als Führer.

Die Ritter scheinen ähnlich zu denken, den Frodwin lässt ein kurzes, hartes Lachen ertönen, während Leander ausweichend den Blick abwendet.

Ilfrid lächelt sanft. „In der Tat", sagt er, und als Frodwin zum Protest ansetzt, hebt er beschwichtigend die Hand. „Wir wissen nicht, wer uns erkennt. Ein unbekannter Junge als Diener mag sich noch weiterhin von Vorteil erweisen."

Taris nickt und fühlt Stolz in sich aufsteigen, Zielstrebigkeit; Ehrgeiz, den Rittern seinen Wert zu beweisen. Trotz der Erschöpfung fasst er Mut, ein wenig nur.

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Einen halben Tag kommen sie ungestört voran, bevor sie ihren ersten Kampf austragen. Es sind zwei Männer, Botschafter an die entfernten Dörfer über den Machtwechsel des Reiches, und Frodwin tötet sie mit sicheren, starken Hieben seines Schwertes, während Ilfrid mit dem Jungen und Taris zurückweichen. Leander zieht sein Schwert, aber die Verletzung macht ihn langsam und den Rest des Tages ist er mürrisch und wortkarg. Taris versteht, wie er sich fühlen muss.

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Am zweiten Tag stiehlt Taris Pferde. Hätte ihm jemand nur kurze Zeit vorher davon erzählt, er hätte ihn für verrückt erklärt – Diebstähle dieser Größe, darauf steht dem Gesetz nach der Tod für einfache Dorfbewohner wie ihn. Aber Ilfrid kann unter dem Gewicht des bewusstlosen Jungen kaum noch laufen, Leander muss auch ohne Last fast jede Stunde rasten und sie brauchen Frodwin und sein Schwert bereit für die Angreifer, die überall lauern.

Sie sind weit entfernt vom nächsten Dorf und Taris ist aufgebrochen, um Wasser und Heilkräuter zu holen, als er sie an einem Baum angebunden sieht, zwei fertig gesattelte Pferde, ihre Reiter nicht in der Nähe. Es ist eine Entscheidung, die er so plötzlich trifft, dass es ihn selbst überrascht und er bereut es schon, nachdem der nur wenige Schritte mit den Händen an den Halftern der Pferde gegangen ist und sein Herz ihn mit seinem Pochen auf die Ohren drückt.

Ilfrid sagt wenig, als Taris mit den Pferden kommt, Leander klopft ihm anerkennend auf die Schulter und Frodwin wirft ihm nur einen weiteren nachdenklichen Blick zu und murmelt davon, dass sie einem Dieb wie ihm wohl schwerlich vertrauen sollten.

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Am dritten Tag fragt Leander nach seinem Namen, während er hoch über ihm auf dem Pferd sitzt. Mit den Pferden für Leander und den Jungen kommen sie schneller voran, endlich.

„Taris", sagt er.

Leander lacht und es strengt ihn weniger an als bisher. „Das passt", erwidert er. „Der tapfere Taris."

Taris wird rot bis zu den Ohrenspitzen.

Der Vergessene PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt