Der Mann angekommen

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Taris erkennt das Zeichen.

Natürlich erkennt er das Zeichen. Der Knoten in seinen Innereien löst sich plötzlich und er kann den Wind wispern hören, wie er ihn noch nie gehört hat. Er reißt an ihm mit ungeduldigen Fingern, Eianda singt aus der sinkenden Sonne zu ihm und es ist kein Vergessenes Lied, sondern reine Freude.

Er springt auf und stößt sich fast den Kopf, weil er sich an die Hütte aus der Sicht eines kleinen Jungen erinnert und nicht als erwachsener Mann und als er sich aus der Tür hinaus bückt ist es ungeschickt und überhastet, als hätte er verlernt seine eigenen Glieder zu benutzen.

Obwohl der Weg zur Stadt hin bergauf geht, rennt er ihn. Seine Seiten schmerzen, seine Lungen brennen, seine Füße pochen von den Wurzeln und Steinen, über die er unbeholfen stolpert. Schweiß steht ihm am ganzen Körper, als er die Stadt erreicht und das sieht, was er gefühlt hat.

Die Tore sind weit geöffnet und unbewacht, an den Seiten der Straßen liegen sich die Leute in den Armen und die Kinder rennen laut lachend und vergnügt umher. Die Frauen zerren aus den Tiefen ihrer Häuser alles, was sie finden können, sie behängen die Häuser mit alten Stoffresten und weißen Laken, mit halb vertrockneten Blüten und Kränzen aus Brennnesseln und Eichenästen.

Von unten, von der anderen Seite, ziehen die Männer ein, und irgendwo da draußen werden noch die letzten Schlachten geschlagen und Blut vergossen, aber jeder einzelne weiß, dass es jedes letzte Opfer wert ist und mehr.

Taris zieht ein in die Stadt und sieht die Spuren der alten Zerstörung überall, die Brandflecken und schwarzen, eingestürzten Dächer, aber die Menschen begrüßen ihn wie einen alten Freund und umarmen ihn wie einen Bruder und sie singen und machen Musik und klatschen und tanzen. Es kostet ihn all seine Konzentration, um nicht verloren zu gehen in ihrer Ausgelassenheit.

„Wo ist das Schloss?", fragt er und bekommt von jedem eine Antwort. Sie ziehen mit ihm, durch die Straßen hindurch, immer weiter nach oben.

Er denkt an seinen Vater, der hier irgendwo gestorben sein muss, bevor er ihn in die Stadt mitnehmen konnte und er lächelt, weil diese Zeiten vorüber sind. Vielleicht wären sie stolz, wenn sie ihn jetzt sehen können. Vielleicht wären sie glücklich.

***

Niemand hat die Leiche von Calred fortgeräumt. Sie liegt dort, in der Mitte des prächtigen Thronsaals, das Gesicht nach unten in einem See aus tiefrotem Blut und rührt sich nicht, und es ist schwer zu glauben dass so viele Menschen so lange Angst vor ihm hatten.

Dass sie so lange vor ihm Angst hatten.

Der Prinz kniet neben ihm und betrachtet ihn, als würde er sich genau die gleiche Frage stellen.

„Er hat nicht geglaubt, dass ich wirklich komme", sagt er, als er Taris' Schritte hört. „Er dachte, ich würde andere vorschicken und selbst nicht mehr sein als ein Geist. Vielleicht dachte er auch, ich würde ihn genauso feige vergiften wollen wie er mich."

Seine Stimme zeigt keine Regung, keine Wut und kein Glück. Er sieht flüchtig auf seine blutigen Hände, aber es ist, als würde er sie nicht ganz wahrnehmen können.

„Er hat Euch vergessen, und das war sein Fehler", sagt Taris sanft. Er bleibt ein paar Schritte von ihm entfernt stehen. „Ihr allein konntet ihn besiegen, denn Euch hätte er von allen Männern der Welt als letztes erwartet."

„Aber ich war nicht alleine, nicht wahr?", entgegnet der Prinz ohne den Blick von der Leiche abzuwenden. „Du warst bei mir, die ganze Zeit. Auch wenn ich nicht verstehe, wie genau."

„Ich habe Euch gesagt, dass ich Euch nie verlassen werde", sagt Taris. „Aber mein Körper wäre Euch im Weg gewesen."

Sie sind allein im Saal und lauschen auf die hallende Stille. Der Prinz sieht noch einmal hinunter auf den leblosen Körper und auf seine blutigen Hände und dann erkennt Taris, dass er zu weinen begonnen hat.

„Ist alles in Ordnung, mein Prinz?", fragt er und tritt näher an ihn heran, damit er sich ebenfalls hinknien und ihm einen Arm um die Schultern schlingen kann.

„So in Ordnung, wie es schon lange nicht mehr war", antwortet der Prinz, die Stimme erstickt von den Tränen. „Wir haben es geschafft, Taris. Wir haben unsere Flucht beendet."

Sie umarmen sich dort am Boden, fest und hart wie zwei Ertrinkende und Taris wischt für Altair die Tränen fort, dass er sich nicht mit den blutigen Fingern ins Gesicht fassen muss.

„Du hast mich gerettet", flüstert Taris.

„Und du mich", erwidert der Prinz und sie pressen Stirn an Stirn und lassen das überwältigende Gefühl des letzten Sieges, des Endes, des Lebens über sich einbrechen und bleiben so, bis die Leute draußen zu ungeduldig werden und ihn sehen wollen, ihren Prinzen, ihren König.

Alles ist anders und neu, aber sie sind wie damals, zwei Seiten der selben Münze, nicht ganz ohne den anderen.

„Du bist der einzig wahre, echte Freund, den ich je hatte und den ich je haben werde", sagt Altair zu Taris. „Egal was uns jetzt erwartet."

Der Vergessene PrinzOnde as histórias ganham vida. Descobre agora