Der Junge in der Kälte

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***

Zwei Tage lang reiten sie, ohne zu reden und zwei Tage lang bleibt die Feuchtigkeit hartnäckig in Taris' Augenwinkeln kleben, obwohl er die beiden Ritter kaum gekannt hat.

Er vermisst Leander, der ihn zum Ritter machen wollte und ihm zugezwinkert hat, wenn Frodwin gehässig wurde. Irgendwie vermisst er selbst Frodwin, selbst wenn es nur wegen seiner Stärke und seiner erfahrenen Führung ist.

Jetzt sind sie auf Glück und Vergessene Worte angewiesen. Die Pferde haben leicht zu tragen an nur einem erwachsenen Mann und zwei Jungen, vor allem weil sie den größten Teil ihrer Ausrüstung zurücklassen mussten. Nur was Ilfrid am Gürtel getragen und das eine Schwert, das er mitgenommen hat, bleibt ihnen.

Taris betritt die Dörfer nicht mehr, um die Lage auszukundschaften, sondern um zu stehlen. Er schämt sich dafür – zeitlebens ist er von seinen Eltern zur Ehrlichkeit erzogen worden, und er wünscht sich, er könnte ehrliche Arbeit für Essen und Decken, frische Wasserschläuche und Kochgeschirr eintauschen, oder zumindest das Gold, von dem er weiß, dass Ilfrid es bei sich trägt.

Aber sie haben keine Zeit, irgendwo lange zu verweilen, bis die unvermeidlichen Fragen kommen, und je ungesehener er bleibt, desto besser. Taris versucht sich zu merken, was er von wem gestohlen hat, damit er seine Schuld begleichen kann, irgendwann, auch wenn seine Zukunft so wolkenverhangen ist wie noch nie.

***

Am zwölften Tag ihrer Flucht ist es zum ersten Mal Ilfrid, der das nächste Dorf aufsucht. Er schlägt die Kapuze seines braunen Mantels über den Kopf, verbirgt seinen Gürtel unter dem Stoff und lässt das Schwert bei Taris.

„Ich bezweifle, dass sie uns so weit draußen noch erkennen werden", sagt er dazu, als könnte er die unausgesprochenen Fragen des Jungen hören. „Aber natürlich werfen Reisende immer Fragen auf, besonders zu diesen Zeiten, also geb gut auf den Prinzen acht."

Den Prinzen.

Taris bleibt allein mit dem Schwert am prasselnden Feuer zurück und betrachtet sein bleiches Gesicht. Seit dem Kampf ist er nicht mehr aufgewacht, aber Heilkunst und Vergessene Kunst gleichermaßen haben ihn am Leben erhalten, gerade so.

Erst seit dem Kampf benennt Ilfrid ihn mit seinem wahren Titel, als wäre es davor zu unsicher gewesen, zu gewagt für die Ohren eines Dorfjungen. Taris hat nie wirklich darüber nachgedacht, warum genau drei Männer so verzweifelt versuchen, einen Jungen zu schützen, aber die Offenbarung war dennoch keine große Überraschung für ihn. Er akzeptiert die Identität seines Begleiters mit einem Wimpernschlag, weil sich dennoch nichts geändert hat.

Der Prinz hat in all seiner Schwäche versucht, ihn zu verteidigen. Und dafür würde Taris ihm auch folgen, wenn er ein geschichtsloser Bauernjunge wie er selbst wäre.

Er hat mit Ilfrid nie darüber gesprochen, aber der Mann weiß es trotzdem. Sie sind Verbündete in ihrer Mission, den Prinzen zu retten, sie müssen sich vertrauen.

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Taris lernt Vergessen Worte. Nicht viel, zwei Sprüche nur, so kurz und einfach wie möglich, weil seine Zunge über die fremden Laute stolpert.

Seit Ilfrid das Dorf besucht hat, huschen seine Augen wachsamer umher und etwas liegt frisch in seinen Schultern eingebettet, von dem er Taris nichts erzählt. Es muss es sein, was ihn dazu treibt, die Vergessene Kunst mit dem Jungen zu teilen, so gut es geht.

Der erste Spruch ist Licht. Durch Taris' Mund bleibt es klein, schwach und farblos, wo es um Ilfrid fließt wie Regenwasser, aber es ist genug für dunkle Nächte und Höhlen, wenn sie keine Fackeln oder Kerzen haben.

Der zweite Spruch ist Zeit. Für seine Einfachheit ist er stark – wenn Taris die Silben richtig ausspricht, dann stockt die Zeit für zwei Atemzüge für jeden außer ihn und jene, deren Namen er in den Spruch hineinzieht.

Er ist etwas enttäuscht, als Ilfrid es ihm beibringt, denn was sind schon zwei Atemzüge gegen eine Meute von Angreifern wie mit den Rittern auf dem Hügel? Aber Ilfrid sieht ihn ernst an und sagt: „Zwei Atemzüge reichen, um einem tödlichen Pfeil auszuweichen" und es versöhnt ihn mit dem Spruch und damit, dass ihm sonst nicht viel gelingt.

Ilfrid, so spärlich er sonst seine wahren Gefühle zeigt, scheint es aufrichtig zu bedauern, dass er ihm nicht mehr beibringen kann.

„Sie wird Vergessene Kunst genannt, weil niemand mehr ihre ganze Kraft kennt", erklärt er am Feuer. „Auch mir selbst sind nur wenige Bruchstücke ihres Wissens gegeben. Einen Meister kann ich mich nicht nennen, denn die letzten wahren Meister sind längst ein Teil der Geschichte. Selbst wer sein ganzes Leben der Suche nach Vergessenen Worten widmet, wird sie heute nie alle finden können."

Taris weiß nichts, was er darauf erwidern kann. Alles, was hinter ihm liegt und alles, was vor ihm liegt fühlt sich nach zu viel an, zu gewaltig, zu überwältigend, für einen Jungen wie ihn. Er starrt in die Flammen und in seinen Augen spiegelt sich das Feuer wie in jener Nacht, seit der sein Leben nicht mehr sein eigenes ist.

***

Sie müssen weite Umwege nehmen, um den breiten Straßen voller Reiter des neuen Königs auszuweichen, und jeder Knick, jedes erfolglose Austasten eines Pfades, der sie wieder weg von ihrem Ziel führt, sticht Taris beklemmend ins Fleisch.

Trotz der Pferde ist es, als würden sie kaum vorankommen, und es zerrt an ihren Nerven.

***

Im Osten, dort wo die Heilerin leben soll, ist der Wald dicht und wild und undurchdringlich. Sie müssen von den Pferden steigen und sich mit Flamme und Schwert durch das Unterholz schlagen, in der vagen Hoffnung die richtige Richtung eingeschlagen zu haben.

Es ist der unpassendste Moment für das Einsetzen des Winters, aber die Jahreszeiten machen nicht vor ihren Bedürfnissen halt und Taris fühlt sich wie taub, wenn die kahlen Äste um ihn herum starr von Frost sind und ihm der Atem wie Rauch vor dem Gesicht steht.

Die Gegend ist zu unwirtlich für Siedlungen. Auch wenn es bedeutet, dass sie endlich etwas ruhen können, nicht mehr auf der ständigen Hut vor verräterischen Augen, macht es ihren Weg schwer. Ihre Vorräte gehen rasch zur Neige, und obwohl Taris sich im Fallenstellen geübt hat, erwischt er nur einmal ein dünnes Eichhörnchen. Wenn Ilfrids Vergessene Worte nicht wären, um ihnen warm lodernde Feuer zu entzünden, sie hätten es nicht weit geschafft.

Sie schlafen dicht nebeneinander, den Prinzen in der Mitte, und wenn Taris' Kopf nicht so starr von der Kälte wäre, würde er die Nähe wohl nie wagen.

Nach und nach braucht Ilfrid seine Kräuter auf, und sie spüren das Leben des Prinzen sanft und zögerlich entschweben, mit jedem schwachen Atemzug. Taris fürchtet sich vor dem Tag, an dem sein Körper nach dem Aufwachen kalt bleiben wird.

Sie können nicht umdrehen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass sie die Heilerin findet, bevor die Kälte sie ganz in ihre tödlichen Arme geschlossen und fest zugedrückt hat.

***

Selbst Ilfrid scheint kaum noch Kraft zu haben, als sie durch das eingefrorene Bachbett stolpern, die Pferde unwillig schnaubend. Taris spürt seine Glieder nicht mehr und der Prinz auf dem Pferd ist unruhiger in seiner Bewusstlosigkeit, beängstigend unruhig, seit ihnen die Kräuter gegen das Fieber ausgegangen sind.

Taris kratzt Eis zwischen den Steinen des Baches zusammen, um ihm die Stirn zu kühlen, bevor er die Decke um seinen Körper fester zieht. Sie sind so weit gekommen, nur um sich im Winter zu verlieren. Er denkt an das was hinter ihm liegt – an sein warmes Zuhause, das Kaminfeuer in der Stube, an seinen Vater, der selbst in harten Wintern immer etwas zu essen für sie auftreiben kann. Wie einfach das Leben doch damals war.

Seine Augen fallen zu, taub und schwer von der Kälte und Taris selbst fällt, fällt, fällt. 

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now