Der Mann und der Weg rückwärts

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Es dauert noch mehrere Wochen, bis sie für den Aufbruch bereit sind.

Altair holt die Schwerter aus ihrer Ecke und er und Taris fangen wieder an zu üben, den ganzen Tag über, bis ihnen beiden fast die Arme abfallen. Dann verabschiedet sich der Prinz und geht an den Klippen entlang, allein, bis spät in die Nacht hinein.

Taris fragt ihn, ob er ihn begleiten soll, aber Altair lächelt nur schwach und sagt: „Das hier muss ich allein tun."

Wenn er weg ist, sitzt er mit Eianda am Feuer, die herzlicher geworden ist, seit der Prinz entschieden hat, seinem Ruf zu folgen. Sie erzählt Taris von ihren Reisen mit Nemeris, von all dem, was sie von den Menschen über die Zustände in den Königreichen erfahren haben, von den Vergessenen Worten, die ihr in der Einsamkeit der beste Freund geworden sind.

Wenn sie ihrerseits Taris zuhört, dann sind ihre Bemerkungen voller Spott, aber dahinter blitzt eine verschmitzte Wärme auf. Sie ist hübsch geworden, stellt Taris überrascht fest, der in seinem Leben kaum die Zeit hatte, die Gesichter von anderen Leuten als seinen wenigen Reisegefährten zu studieren. Der Gedanke an eine unbestimmte Zukunft, in der er verheiratet ist und Kinder hat, denen er das Harken und Jäten und Säen beibringt, das Kräutersammeln und Jagen und Stallbauen, blitzt in ihm auf wie das verwirrte Bild eines fremden Mannes.

„Was ist deine Aufgabe?", fragt er sie irgendwann und sie zuckt nur mit den Schultern.

„Ich will die Welt heilen", antwortet sie. „Wie jede Heilerin. Ich habe nur den Vorteil, dass ich weiß, wie es geht."

Sie ist nicht nur hübsch geworden mit der Zeit, sondern auch weise. Ihre alten Scherze sind durchdrungen von tiefgründigen Gedanken und manchmal verstummt sie und sieht über das Feuer hinweg weit in die Zukunft und die Flammen spiegeln sich in ihren Augen wie die Vergangenheit.

Taris erzählt ihr von Licht, Zeit und Kraft und erwartet, dass sie ihn auslacht, aber sie legt nur den Kopf schief und sieht ihn nachdenklich an.

„Du solltest mehr wissen", teilt sie ihm mit und bringt ihm Lieder bei, in denen sich die Vergessenen Worte verstecken, die leichter und einprägsamer von der Zunge gleiten als die Worte allein und die ihm Wissen und Ahnung und Weisheit, Trost und Schutz spenden.

„Sing sie dem Prinzen", trägt sie ihm auf und dann lässt auch sie Taris allein und tanzt draußen mit dem Wind und den Worten und allem Vergessenen, während er drinnen die Schwerter schärft und poliert und alles in Salz trocknet, was sie später nur tragen können.

Sie bereiten sich jeder auf ihre Weise für den Aufbruch vor, der wie Eiandas blaue Wolken voller Nieselregen über ihnen hängt und ungeduldig an ihnen zieht. Manchmal hält Taris in den Vorbereitungen inne und steigt auf den Turm und sieht Eianda im Mondlicht auf der Wiese, und den Umriss Altairs fern an der Klippe und er wünscht sich, dass die Zeit nicht gar so drängen würde.

***

„Bald werde ich zurück sein", wispert der Prinz, bevor er die Tür schließt. Die Worte stehen genauso klar an der Wand wie bei ihrer Ankunft.

***

Altair und Taris drehen sich gleichzeitig um, um einen letzten Blick auf die Ruine zu werfen, auf ihr Ende der Welt. Es ist klein von weitem und Taris weiß, dass es ihnen auch ohne Eianda irgendwann zu klein geworden wäre.

Ihre Zeit hier hat sich nicht wie Veränderung angefühlt, aber sie sind erwachsen geworden.

***

„Ein Prinz also", sagen sie in der Stadt. „Von mir aus."

Von Eiandas Vergessener Kunst sind sie genauso wenig beeindruckt und Taris sieht Altair die Erleichterung an. Ihr Weg ist ein ganz anderer als das letzte Mal, aber verändert hat sich dennoch wenig.

***

In den kleinen Dörfern schaut man sie aus großen Augen an, als sie aus der Ödnis kommen.

„Falls sie euch gesagt haben, dass alle Verbrechen vergeben sind, was das eine Lüge", ruft ihnen einer auf der Straße spöttisch zu, „Mörder werden immer noch aufgehängt in den Städten!"

„Wir sind keine Mörder", entgegnet der Prinz lächelnd. „Wir kommen, um einen Mörder zu richten."

Er versteckt sich nicht mehr und jedes seiner Worte spricht er bewusst.

***

Eine Reise vergeht so viel rascher, wenn ihr höchstes Ziel nicht das Weglaufen ist.

Im ersten Königreich wissen sie kaum, was sie sagen sollen über den Prinzen in ihrer Mitte und lassen ihn voll unverständiger Ehrfurcht passieren, im zweiten Reich bricht eine Frau über seine Ankunft in Tränen aus und sie werden überschüttet mit Gebäck und gutem Fleisch und dicker Kleidung für den nahen Winter.

In den Bergen ist ihnen ihr Ruf bereits vorausgeeilt und die Wächter lassen sie wortlos jeden Pass passieren, ihre Durchquerung nur wenige Tage lang, nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Gesamtheit der Zeit.

Die Städte sind leerer als auf ihrem letzten Weg, zu viele Männer fort in erbitterten Gefechten, aber wer übrig ist öffnet ihnen die Türen und redet frei und erleichtert von allem, was die einfachen Menschen in den Reichen beschäftigt.

Taris Kopf schwimmt bald von all den neuen Informationen, von den unzähligen persönlichen Schicksalen, von den Erwartungen und Wünschen und Hoffnungen.

„Nur vorwärts, mein Prinz", sagen sie, „Stoßt ihn vom Thron, den Hund, der die Länder so ins Unglück gestürzt hat."

Altair hört ihnen allen lang und geduldig zu, findet ermutigende Worte und packt an, wo Arbeitskraft schmerzlich vermisst wurde.

„Ihr seid der wahre Prinz, der rechte Prinz", sagt Taris mit kaum gezügelter Bewunderung zu ihm und Altair senkt den Kopf und sieht auf seine schwieligen Hände.

„Ich wünschte, ich würde mich so zuversichtlich fühlen, wie du sprichst", sagt er und es ist schmerzlich offensichtlich, dass er trotz allem Mut und aller Tapferkeit noch einen weiten Weg vor sich hat, der mit jedem Abschnitt schwerer zu werden droht. „Das brennende Haus ist fern von uns und bis jetzt sind es nur Funken, die uns treffen und sich leicht austreten lassen. Ich weiß nicht, ob wir das Haus löschen können, oder gar seiner Hitze widerstehen."

„Mit jedem Schritt fort habt Ihr Euch klein gemacht", sagt Taris ihm nach einer Pause. „Es wird viele Schritte in die andere Richtung brauchen, damit Ihr wieder groß werden könnt."

Manchmal zweifelt er daran, dass ihr Weg bis zu diesem Zeitpunkt der richtige gewesen ist, überlegt, ob sie ihre Flucht nicht genauso mit erhobenem Haupt hätten vollenden sollen wie jetzt, ob sie früher hätten umkehren sollen. Ob sie auf den Wind hätten lauschen können, bis Ilfrids Reden von Schicksal keine Überraschung mehr gewesen wären, ob sie ihn hätten retten können.

Mit den Händen des Prinzen arbeitet der freie Mann, in seinen Worten klingt der eingesperrte Jüngling, in seinem Blick spiegelt sich der vergiftete Junge. Die Flucht vor dem Verräterkönig sitzt in seinen Haarwurzeln, der Winter in den Bergen zeichnet sich auf seine Schultern, die Stadt in der Ödnis liegt fest und hart direkt unter seinem Nacken. Seine Fingerknochen sind die kraftvollen Sommer, seine Wimpern die Winter, die Waden tosender Frühling und milder Herbst.

Wenn Taris zweifelt, dann muss er den Prinzen nur lang genug ansehen, um sich daran zu erinnern, dass er ohne all ihre verschlungenen Wege, ohne die Verluste und die Qualen und die Unsicherheiten und die Fehler, nie zu dem Prinzen geworden wäre, den die Menschen nach Jahren der Unstetigkeit und Angst verdienen. 

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now