Der Junge im Kampf

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***

Am fünften Tag hat sich bereits so etwas wie Routine eingeschlichen.

Sie schicken Taris voraus, damit er nach feindlichen Kämpfern und Kundschaftern Ausschau hält. Wenn sie sich über ihn und seine Absichten wundern, kann er einen Teil der Wahrheit erzählen: Er ist nur ein Waisenjunge, der Angst hat und einen sicheren Ort sucht.

Ihre Rasten legen sie nur tagsüber ein, wenn ein einzelnes Paar aufmerksame Augen und zwei gespitzte Ohren genügen und ein Feuer sie nicht bis weit in die Dunkelheit hinein verrät.

Ilfrid entlockt zunderlosem, nassem Holz die Flammen mit ein paar Vergessenen Worten, während Taris zusieht und sich fragt, ob er sie wohl ebenfalls erlernen könnte, all seine Kniffe und Tricks, sein Wissen. Er würde es gerne. Schon so lange ist er nicht mehr der Sohn einfacher Dorfleute, aber davon wird er nie einen Beweis außer den eigenen Geschichten haben, nichts was er mitnehmen kann.

Manchmal, wenn Leanders Verletzung frisch verbunden ist und er genug Schlaf bekommen hat, übt er mit Taris am Schwert und lacht, wann immer es ihm schwer aus der Hand fällt. Es ist kein böswilliges Lachen, nicht wie die Kommentare von Frodwin dazu, der meint Taris wird ihnen das Schwert alle im Schlaf in den Rücken stoßen, wenn Leander den Unterricht übertreibt. Taris mag den Gedanken mehr, als er zugeben will, dass er irgendwann an ihrer Seite kämpfen kann.

***

Ihre Reise ist erstaunlich einfach verlaufen, bisher, mit Ilfrids Vergessener Kunst und Frodwins Aufmerksamkeit, Leanders Logik und Taris' Kundschafterei. Aber bis auf Taris scheint jeder von ihnen längst gewusst zu haben, dass der Umbruch kommen wird, dass das größte Hindernis noch vor ihnen liegt.

Es ist der achte Tag, seit sie den Schatten der brennenden Hauptstadt hinter sich gelassen haben und Taris ist bei einem nahen Bach, nur mit den Trinkschläuchen und zwei von Ilfrids Beuteln, um Eibenkraut und Weißen Holunder nachzufüllen. Er erkennt die Geräusche von klingenden Schwertern und Kampfgebrüll nicht sofort – für ihn sind sie nur Teil jenes Albtraums, den er so bewusst zurückgelassen hat.

Doch dann brechen zwei fremde Männer durch das Unterholz zu ihm durch, ihre Klingen erhoben und ihre Absichten klar, und er lässt alles fallen und rennt so schnell ihn seine Füße tragen.

Die letzten Tage sind sie geschlichen, ihre Schritte vorsichtig und behutsam und er ist lange nicht mehr gerannt, aber die Angst und die Hilflosigkeit treiben ihn an, bergauf, wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben.

Der Kampf findet weiter unten statt, in einem lichten Teil des Waldes, ihr Lager noch ein gutes Stück entfernt und verborgen nahe der Kuppe des Hügels. Taris sieht Leander und Frodwin, fast verborgen in einem Wirbel aus fremden Umhängen, eingekreist von den Mengen der Angreifer, aber um sie herum liegen bereits einige reglose Körper und sie schlagen sich gut. Immer, wenn einer der feindlichen Kämpfer ausbrechen und nach oben eilen will, können sie es verhindern.

Taris wünschte, er wäre längst wie sie und könnte mit dem Schwert in der Hand leichtfüßig tanzen, sich gegen diese vernichtende Übermacht behaupten, stark und furchtlos.

Er jagt vorwärts, immer vorwärts, als er Frodwin aufstöhnen hört und sich umwendet, als sein Gegner gerade das Schwert aus seinem Bauch zurückzieht, schimmernd von Blut.

„Beeilt euch", presst er hervor, gerade laut genug, dass Taris es hören kann, bevor er weiterrennt. Männer folgen ihm, aber er kann keinen klaren Gedanken fassen und weiß nicht, was er gegen sie tun kann, außer weiterrennen, hin zu ihrem Lager, wo ein schutzloser, bewusstloser Junge liegt und ihnen noch viel mehr ausgeliefert ist als er. Taris würde schreien, wenn ihm genug Luft bliebe und dann stolpert er auf ihre kleine Lichtung und fällt auf die Knie.

Das Feuer brennt noch, die Pferde schnauben leise auf und für einen kurzen Moment ist es, als wäre er nach Hause gekommen, hätte die Tür hinter sich zugeschlagen und alle Gefahr zurückgelassen. Dann bricht ein einzelner Kämpfer hinter ihm aus dem Wald, das Schwert zurückgeschwungen, jederzeit bereit für einen vernichtenden Schlag.

Taris hat keine Zeit mehr, sich aufzurichten, er dreht sich um und fällt auf den Hosenboden, krabbelt rückwärts vor der turmhohen Gestalt vor sich weg, deren Gesicht von einem Helm verdeckt ist und die ebenso ein böser Dämon wie ein Mensch sein könnte. Seine Hände bekommen Steine zu fassen, die er nach dem nahenden Angreifer wirft, aber sie bringen ihn kaum ins Stocken.

Die Ritter kämpfen an einer anderen Stelle, Ilfrid ist fort und er sieht sich längst sterben, als jemand sagt: „Haltet ein, bei Eurer Ehre. Er ist unbewaffnet."

Es ist eine leise, schwache Stimme, aber der Kämpfer vor Taris hält inne und dreht sich nach ihr um, genauso wie Taris selbst, auch wenn er die Hilfe lieber nutzen sollte, um weiter zu fliehen.

Aber da steht der Junge, der acht Tage lang nicht die Augen geöffnet hat. Jetzt sind sie immer noch glasig und fiebrig, sein Körper zittrig, doch er steht trotzdem aufrecht und hält ein Schwert fest in beiden Händen, das er auf den Angreifer richtet.

Und der Angreifer zögert.

Taris denkt, wie einfach er es hätte, drei Schritte und ein starker Hieb und all ihre Mühen, den Jungen zu retten wären umsonst gewesen. Er sieht nicht einmal stark genug aus, um das Schwert lange so zu halten, wie er es jetzt tut, geschweige denn auch nur einen Schlag damit zu tun. Aber trotzdem hat er es erhoben, um Taris zu verteidigen, sein Blick voll wilder Entschlossenheit im Angesicht des sicheren Todes. Taris verdankt ihm sein Leben.

Für einen winzigen Moment treffen sich ihre Blicke.

Dann geht alles schnell. Der fremde Kämpfer fliegt urplötzlich durch die Luft und prallt krachend und schlaff in einen Baum, Taris springt auf und Ilfrid stürmt von der Seite auf die Lichtung, hellblaues Licht um seine Finger wirbelnd.

Er sieht den Jungen mit dem Schwert stehen und sinkt auf die Knie, sein Gesicht zum ersten Mal, seit Taris ihn kennt, fassungslos.

„Mein Prinz", haucht er ehrfürchtig. Der Junge lächelt schwach. Seine Augen verdrehen sich, er bricht zusammen und Taris eilt mit ausgestreckten Armen zu ihm, bevor sein Kopf auf dem Boden aufschlagen kann.

Mehr Kämpfer nähern sich ihnen, und Leander ist dicht hinter ihnen und durchstößt ihre Körper im Laufen, aber es sind viele, so viele ...

„Geht!", ruft Leander ihnen von weitem zu. „So schnell ihr könnt!"

Ilfrid nickt grimmig und bindet die Pferde los, während Leander vorwärts hechtet und den nächsten Kämpfer mit sich zu Boden reißt.

„Los, hinauf", weist er Taris an, der ihn ungläubig anstarrt und nichts tut, bis ihn Ilfrid am Kragen packt und mit erstaunlicher Kraft auf einen der Pferderücken setzt. Er wirft den Jungen unsanft vor ihn über den Sattel, und Taris kann sich gerade noch so festklammern, bevor Ilfrid dem Pferd einen Klaps versetzt und es losjagt.

Alles fliegt so schnell davon, dass er kaum atmen kann, die Kämpfer und Leander, die Reste ihres Lagers, selbst Ilfrid und das zweite Pferd sind für ein paar Augenblicke fort, bis er zu ihnen aufschließt. Um ihn herum verschwimmen Stämme und Blätter, während es ihn durchschüttelt und er verzweifelt versucht, in eine Position zu kommen, dass weder er noch der bewusstlose Junge vom Pferd fallen können.

Es dauert eine ganze Weile, bis er versteht, dass der Schleier vor seinen Augen von den Tränen kommt. 

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now