Der Mann und die Erinnerung

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Calreds neues, großes Reich hat ihnen wenig entgegenzusetzen. Es ist ausgelaugt und ausgemergelt, wie ein alter Bauer, der versucht unfruchtbarem Grund ein Leben zu entlocken.

An jeder Ecke werfen die Männer jetzt die Werkzeuge nieder um zu Waffen zu greifen, der Zug hinter dem Prinzen ist länger als damals der Strom der Flüchtenden in die andere Richtung.

„Ich kenne nur so wenige ihrer Gesichter", sagt der Prinz seufzend zu Taris. „Überall sind sie, und überall starren sie mit ihren Erwartungen entgegen."

Sie gehen Seite an Seite, umringt von entschlossenen Männern. Man hat ihnen Pferde angeboten, aber der Prinz fühlt sich nur noch unwohler in seiner Haut, wenn sie zu ihm aufschauen müssen.

„Wir könnten einen anderen Weg gehen, ohne sie", schlägt Taris vor und dann räuspert er sich und fügt rasch hinzu: „Verzeihung, das war unangebracht."

„Warum?", fragt der Prinz belustigt.

„Ihr könnt keine Armee um Euch sammeln, nur um sie wieder im Stich zu lassen", erklärt Taris ihm verlegen und versucht, nicht allzu genau zu den anderen Männern hin zu sehen. „Sie sind hier, weil Ihr sie anführt, mein Prinz."

„Vielleicht", erwidert der Prinz nachdenklich. „Vielleicht haben wir den Hang aber auch schon genug ins Rollen gebracht, dass wir keine Steine mehr hinterher treten müssen bis er das Tal erreicht."

Seine Augen funkeln vergnügt und Taris muss selbst lachen, als er seinen Blick sieht. Es mag nur eine dumme Spinnerei sein, aber ihnen beiden gefällt der Gedanke, den letzten Weg alleine zu gehen.

***

Es ist mehr als eine dumme Spinnerei.

Der Prinz unterhält sich lange und ernst mit den Männern, die ihn am längsten begleiten und als sie geendet haben gibt es einen Heerführer und Generäle und Berater und Waffenmeister.

Taris lässt Licht um seine Hand tanzen um sich die Zeit zu vertreiben, bis es spät genug wird sich schlafen zu legen, ein paar der jüngeren Burschen schauen ihm voller Staunen dabei zu und wispern davon, was für ein großer Zaubermeister er wohl sein muss. Er schmunzelt darüber, und wird nachdenklich als ihm klar wird, dass die Burschen jünger sind noch als er, der sich so anfühlt als wäre er erst vor wenigen Tagen als Junge durch diese Gegend gezogen, völlig ahnungslos über die Zukunft, die jetzt seine Wirklichkeit ist.

Dann räuspert sich der Prinz hinter ihm und die beiden Pferde, die er gebracht hat, schnauben unruhig.

„Lass uns gehen", sagt er grinsend.

***

„Habt ihr von der Armee gehört, die auf Calred marschiert?", flüstern sie. „Der jüngste Prinz von damals, den wir alle für tot gehalten haben, er soll sie anführen."

„Von den Toten aufgestanden ist er, um das Leid aus unseren Landen zu vertreiben, das ist er. Jedes seiner Glieder wurde aus Vergessenen Worten geschmiedet, und wenn er das Schwert führt, dann steht es in Flammen!"

„Wenn sie nicht aufpassen, dann wird man sie alle miteinander abschlachten. Ich will gar nicht wissen, was Calred mit ihnen vorhat. Gut ist es bestimmt nicht."

„Das ist doch Humbug, diese Prinzen-Sache. Wie soll er denn der Übernahme damals entgangen sein? Da war doch alles voll mit den Männern von Calred, und jeder hatte sein Portrait in der Tasche. Niemals ist er entkommen. Ein Scharlatan ist es, sag ich euch. Im besten Fall noch lügt er, damit er die Leute auf seine Seite kriegt, aber ich bekomm den Verdacht nicht los dass er sich einfach nur wichtig machen wollte, der Mann."

„Mir ist es egal, ob es ihn gibt oder nicht, Hauptsache, jemand besitzt endlich mal den Mumm was zu tun. Viel zu lange haben wir diese Heuschrecken von Calred über uns ergehen lassen! Wenn sie hier vorbeikommen, dann werde ich mich ihnen anschließen, das ist sicher."

„Ein verloren gegangener Prinz auf dem Weg hierher? Ja ja, genau. Und ich bin der heimliche Kaiser, der über die ganze Welt herrscht. Wer's glaubt."

Der Prinz grinst in seinen Weinbecher und Taris läuft rot an, weil er sich das Lachen so angestrengt verkneifen muss. Jeder kennt ihn, aber erkennen kann ihn keiner mehr.

***

„Es fühlt sich nicht echt an", gibt der Prinz zu und bleibt stehen, mitten auf dem Pfad den sie gehen. Taris geht keinen Schritt weiter als er.

„Ich weiß", sagt er ernst.

Das Land um sie ist im Aufbruch. Jeder weiß alles und jeder weiß nichts, sie spüren die Spannung und die Aufregung in der Luft wie ein Sturm, der sich zusammenbraut. Der Hang rollt abwärts, und er wird nicht nur das Tal erreichen, er reißt den ganzen Berg ein.

„Wegen mir wird so viel Blut vergossen werden", sagt der Prinz schwer. „Noch könnte ich es verhindern. Noch könnte ich ..."

Sie denken beide an das kleine Land des Verräterkönigs, dem Calred seine Gunst versprochen hat für die Auslieferung des Prinzen.

„Das Blut wird die kargen Böden wieder fruchtbar machen", erwidert Taris ruhig. „Die Opfer jetzt sind nötig, um die Opfer der Zukunft zu verhindern."

„Vielleicht", murmelt der Prinz und starrt weit in die Ferne, seine Augen glasig. Noch haben sie jene erste Grenze von damals nicht erreicht, noch sind sie nicht zurück im Land der Alten Könige.

„Spürst du noch das Gift, Altair?", fragt Taris leise und unvermutet. „Denn ich sehe, wie es in dir hochkommt."

Er merkt, dass der Prinz schwer atmet, obwohl sie stehen.

„Ich dachte einmal, sie hätten uns das Essen vergiftet", sagt der Prinz. „Ich dachte, meine Brüder sind einer nach dem anderen auf den Boden des Saals gesunken, weil sie zu viel von unserem liebsten Eintopf genommen hatten. Ich dachte, ich hätte nur überlebt, weil sie mir nicht mehr als ein paar Löffel übrig gelassen haben, weil ich zu jung war, um mir meinen Teil zu erkämpfen. Aber vielleicht war es das Land selbst, das uns vergiftet hat, durch unsere Sohlen hindurch bis ins Herz."

Schweiß tritt auf die Stirn des Prinzen und Taris merkt kaum einen Augenblick zu früh, was geschieht, bevor seine Augen sich verdrehen und er kraftlos zusammensackt. Taris fängt ihn auf und kniet mit ihm am Boden, streicht ihm die feuchten Haare aus der Stirn und weiß genau, dass das hier von all ihren Wegen der längste sein wird.

***

Manchmal träumt Taris von Eianda. Dann sitzen sie wieder gemeinsam irgendwo zwischen flatternden Lichtpunkten, und sie redet mit ihm in einer so klaren und deutlichen Stimme, dass er sich noch danach an ihre Worte erinnern kann.

„Es ist schwerer, umzukehren, wenn tausend Männer hinter einem stehen", erklärt sie ihm ernst. „Sei vorsichtig Taris, dass ihr nicht so kurz vor dem Ende das Ziel verliert."

Sie singt ihm noch einmal die Vergessenen Lieder und er summt mit im Schlaf. Dann singt er sie dem Prinzen, und der Prinz lächelt und atmet ein kleines bisschen ruhiger.

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now