Der Jüngling und die Leere

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Die letzten Wochen im Königreich vergehen rasch und ereignislos. Sie sind lange nicht mehr einfach vorwärts gegangen, nicht immer darauf bedacht, Schlenker und Biegungen zu machen und ihre Spuren zu verdecken, aber sie befinden sich in ihren Köpfen längst in einer ganz anderen Gefahr als der Entdeckung, auch wenn sie nur vom Gegenteil sprechen.

„Wir müssen niemals zurückkehren", sagt Taris immer und immer wieder zu Altair, wann immer er ihn bleich und in sich gekehrt sieht.

„Wir werden noch einmal von ganz vorne anfangen", erwidert Altair dann mit seinem schmalen, zuversichtlichen Lächeln.

Sie lügen beide, aber in diesen Momenten zählt es nicht.

Es ist nicht mehr lange, bis sie frei sind, sagen sie sich, nicht nur in Worten, in jedem Blick, in jedem Schritt, den sie gemeinsam gehen und schwungvoller dabei sind als zuvor.

„Ich hatte vier ältere Brüder", erzählt Altair ihm auf dem Weg, während sie Schulter an Schulter laufen, Taris mit seinem Wanderstab wie eine Warnung, nicht wieder vom Ziel abzukommen.

„Ich bin nie dazu erzogen worden, irgendjemanden zu führen. Meine Tage wären gefüllt gewesen von hochgestochenen Diskussionen über Politik, die mich nicht interessierte über Menschen, von denen ich keine Ahnung hätte, während ich mich in endlosen Jagden und sinnlosen Turnieren ergötzt hätte. Ich sollte nie König sein."

Er schweigt und ihre Füße graben sich im gleichen Takt in die Erde.

„Ich sollte nie Prinz sein", fügt er nachdenklicher hinzu. „Meine Brüder waren Prinzen. Ich war nur eine Junge, der Glück hatte."

„Das haben wir gemeinsam", sagt Taris lächelnd.

Jahrelange Wunden schließen sich ungesehen, während sich ihre große Reise in raschen Schritten dem Ende nähert.

***

Als sie zwischen den fallenden Blättern eines milden Herbstes die Ödnis, das wilde Land jenseits der Grenzen, betreten, ist es keine wirkliche Veränderung für sie. In Gedanken haben sie die Ödnis lange erreicht und haben es jetzt nur dem Glück zu verdanken, dass sie das letzte Königreich genauso vergessen hat wie sie das Königreich vergessen haben.

Eine Grenze zu jenem verlassenen, vergessenen Land gibt es nicht, in den letzten Ausläufern des Königreichs werden die Dörfer nur immer kleiner und spärlicher und ihre Bewohner warnen sie vor dem Weitergehen. Irgendwann erreichen sie eine karge, windgepeitschte Steinwüste, in der kaum Leben zu finden ist und deren Durchquerung sie fast an die Grenze ihrer Kräfte und Vorräte bringt und als sie auf der anderen Seite angelangt sind, ist das Land nicht wilder als vorher, nur leerer.

Ihnen begegnet bald eine große Gruppe bewaffneter Reiter, doch sie halten nur kurz inne und raten ihnen, sich nördlich zu halten, wenn es ihnen nach menschlicher Gesellschaft und einem Dach über dem Kopf verlangt, ihre Worte ohne Wertung, ohne Wärme oder Feindseligkeit.

„Was sie wohl vorhaben?", murmelt Altair, als sie schließlich weiterreiten, aber so genau wollen sie es beide nicht wissen.

Sie sind froh, dass ihnen weitere Begegnungen mit Menschen erspart bleiben und sie für mehrere Tage allein sind mit der Natur, mit der Wildnis die sich ihnen gänzlich vertraut anfühlt. Der Herbst währt länger als gewöhnlich und seine Winde sind wärmer, während sie durch kleine, unberührte Wälder streifen und der Reichtum an Wild und Pilzen und Beeren sie fast so üppig leben lässt wie in ihrer Zeit auf der Burg des verräterischen Königs.

Taris fragt sich, warum das benachbarte Königreich nie versucht hat, die Ödnis für sich zu erobern nach dem Fall ihres Herrschers, doch Altair erinnert ihn daran, dass die reichen Wälder selten sind und nur der Abwesenheit der Menschen wegen so unbehelligt bleiben und der Boden sonst steinig und unfruchtbar ist.

„Ich habe davon im Unterricht gehört", erzählt er, seine Augen auf den leeren Horizont gerichtet. „Der einzige Schatz dieses Landes waren immer seine hart arbeitenden Bewohner und ihre Widerstandsfähigkeit, und die Eroberung war es niemals wert."

Er grinst Taris zu. „Unser Glück."

Mit Bodenschätzen und fruchtbarem Ackerboden können sie auch schon lange nichts mehr anfangen.

***

Taris ist froh, dass ihre Reise nicht sofort mit dem Übertreten der Nicht-Grenze vollendet ist.

Auf dem Weg weiter nach Norden, über die kaum noch erkenntlichen Überreste einer alten Straße, passieren sie die Ruinen zerfallener Dörfer und verlassener Burgen, finden sich zwischen Herden verwilderter Schafe wieder und suchen nachts Schutz vor dem kälter werdenden Wind in den Ritzen und Nischen der felsigen Landschaft.

Manchmal sehen sie die Rauchschwaden ferner Feuer am Himmel, aber sie haben nicht das Bedürfnis, nach ihrem Ursprung zu suchen. Vielleicht ist ihnen auch das Misstrauen zu sehr ins Blut übergegangen, die Gewohnheit an das Alleinsein und daran, in keinem Menschen mehr als einen Fremden zu sehen.

Altair erzählt ihm wieder von seinem Unterricht, dass die wenigen, gesetzlosen Bewohner dieses Landes grob und blutrünstig sein sollen und jeden in Stücke reißen, der sich in ihr Gebiet begibt, wie wilde Tiere.

„Das waren Schauergeschichten, damals", sagt er mit einem schwachen, wehmütigen Lächeln. „Es kommt mir so seltsam vor, dass ich mich letztendlich hier wohler fühle als in all den Ländern, in denen unserer Hauslehrerin nach Sitte und Anstand herrschten."

„Das wird sich noch ändern, wenn wir unsere ersten blutrünstigen Monster treffen", erwidert Taris grinsend. „Dann werde ich mir wünschen, dir nie einen gehörigen Schlag verpasst zu haben und lieber den Königssoldaten in die Arme gelaufen zu sein."

Altair schubst ihn zur Antwort nur, aber seine Schritte sind heiterer danach.

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now