Der Mann allein

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Die Abzweigung liegt vor ihnen wie ein Henkersbeil. Rechts ist die Stadt, links ist das Dorf.

Der Prinz sieht zu Taris mit dem Blick eines Mannes, der längst verstanden hat und dennoch hofft, dass alles anders kommen wird.

„Ich brauche dich", sagt er, heiser und trocken, noch bevor Taris aussprechen kann, was er schon so viel länger verstanden hat.

„Ja", sagt er und sein Herz ist schwer dabei. „Aber Ihr braucht mich nicht an Eurer Seite. Nicht für diesen Teil."

Viel zu viel bleibt ungesagt, als sie sich umarmen, lange und fest und beide mit Tränen in den Augen, aber sie verstehen sich ohne Worte, besser als je zuvor.

Taris sieht ihm nach, wie er allein den Pfad zu seiner letzten Aufgabe hin beschreitet, rasch und entschlossen, mit langen Schritten und ohne einen Blick zurück, wie der Prinz, der einzige, der wahre Prinz, der er ist.

Er glaubt an ihn, den Prinzen und sein Schicksal, mit jeder Faser seines Körpers, mit jedem Atemzug, mit jedem Blinzeln. Seine letzte Schlacht muss der Prinz allein schlagen, aber der Glaube von Taris wird ihm nicht von der Seite weichen.

***

Sie kehren beide zurück.

Das Dorf hat sich kaum verändert, genauso wenig wie der Wald. Hier fehlt ein Haus und dort steht ein neues, manche von ihnen sind alt und eingefallen und verlassen, aber Taris erkennt es und Taris könnte es immer noch blind durchschreiten.

Er erkennt wenige Gesichter von denen, die sich überhaupt nach ihm umwenden. Die Leute gehen schnell und geduckt ihren Aufgaben nach, dürr und zäh und fest ans Leben geklammert. Es sind weniger von ihnen, als er sich erinnern kann, aber vielleicht setzt hier auch seine Erinnerung aus. Sein Dorf kam ihm einmal riesig vor – bevor er ans Ende der Welt gereist ist und zurück, bevor er gesehen hat, wie groß die Welt tatsächlich ist.

Eine fremde Frau und ihre drei Kinder leben in dem Haus seiner Eltern, aber sie lassen ihn bereitwillig herein, den seltsamen Mann. Vielleicht ist es eine Freundin aus seiner Kindheit, überlegt Taris, als er das verhärmte Gesicht der Frau betrachtet, doch das Haus ist das einzige, was ihn wirklich interessiert. Die Kräuter seiner Mutter sind verschwunden und alles, was sie einmal an wertvolleren Gegenständen besessen haben, aber die Möbel sind dieselben, die niedrige Decke, die Fenster.

Er lehnt die Grütze ab, die die Frau ihm anbietet und die Kinder starren ihn an.

„Es heißt, ein Prinz ist unterwegs, um Calred zu stürzen", sagt die Frau. „Er soll nicht mehr fern sein."

„Er ist es nicht", sagt Taris. Seine Hände wandern über die alten Stützbalken des Raumes und er schließt die Augen und stellt sich vor, wieder ein Kind zu sein, aber es funktioniert nicht. So hoch hat er damals niemals reichen können.

„Seine Armee wird bald zurück sein", fährt sie fort. „Sie werden sich seinen Streitmächten entgegenstellen und er wird scheitern."

Taris lächelt.

„Das wird er nicht."

Sie starren ihn alle an, die Kinder und die Frau. Wahrscheinlich hat sie ihren Mann im Krieg verloren, denkt er. Draußen waren wenige Männer zu sehen, und keiner von ihnen im besten Alter.

„Soll ich euch etwas zeigen?", fragt er die Kinder und lässt blaues Licht um seine Finger tanzen. Sie hätten seine Geschwister sein können, in einer anderen Wirklichkeit, seine eigenen Kinder gar.

Es lenkt ihm kaum ab von dem Gedanken daran, wo der Prinz wohl gerade sein muss. Ein zweites Herz pocht unter seinem eigenen, schwach und fern und dennoch deutlich und er kann nicht ruhig bleiben.

Die Kinder lachen so ungeschickt über die Flammen, als hätten sie es nie richtig gelernt und die Frau legt die Stirn in Falten, nachdenklich.

***

Es dröhnt in seinen Ohren, so sehr, dass er nichts anderes mehr um sich hören kann.

Er verlässt das Dorf über die gleiche Wiese, die er damals schon überquert hat, hin zu dem Wald, der ihn noch von der Stadt trennt. Wie viel von all dem ungewohnten, das ihn durchspült, Angst ist und wie viel Vorahnung, kann er nicht sagen.

Die Wirklichkeit wird sich ändern, nach heute. Er kann nichts tun außer da sein, wie damals.

Da sein und glauben.

Der Prinz hat ihm versprochen, dass er auf sich Acht geben wird.

Der Prinz wird triumphieren, daran glaubt Taris. Das weiß Taris. Oder?

Die härteste Prüfung ist es, nicht einmal in der Nähe zu sein. Er fühlt sich abgeschnitten. Halb. Allein. Verloren. Vergessen.

Aber Taris versteht, dass es so und nicht anders sein muss.

***

Die alte Köhlerhütte ist noch da, die Stube ein einziges Chaos aus zerbrochenem Geschirr und umgeworfenen Möbeln. Wenn Taris die Augen fast ganz zumacht, sodass die Umgebung vor ihm verschwimmt, dann meint er fast den Prinzen wieder hinter dem Vorhang erkennen zu können, wie er still und vergiftet dort liegt und so kurz davor ist, seinem Ende zu begegnen.

Er fühlt sich verwirrt und ängstlich und ratlos wie damals, auch wenn er jetzt so viel mehr weiß und kann und versteht.

Damals hat er ihn angesehen, den Jungen, und gewusst, dass seine Geschichte gerade erst begonnen hat.

Dieses Mal kann er auf das gleiche nur hoffen.

Taris setzt sich auf die Kante des Bettes, wo er dem Prinzen Wasser eingeflößt hat und er lehnt sich zurück, dorthin, wo der Prinz einmal gelegen hat und schließt die Augen. Auch wenn es nur ist, damit die Tränen ihm nicht ganz so rasch hinausrinnen. Es sind keine Tränen der Trauer oder der Wut oder der Freude – es sind Tränen, die er selbst kaum benennen kann, die ihn verlassen weil ihn irgendetwas verlassen muss und der Prinz nicht hier ist und ihm zuhören kann. Weil er Altair allein ziehen lassen musste, damit er seine eigene Schlacht schlägt.

Schlafen kann er nicht, selbst wenn er wollte. Er wartet auf ein Zeichen, von dem er nicht weiß, ob er es erkennen wird. Gesichter ziehen über die Dunkelheit seiner Augenlider, von all jenen, denen sie begegnet sind und denen sie es verdanken, hier zu sein und eine ganz neue Art der Angst zu spüren. Dann sieht er nur noch den Prinzen, lächelnd, wütend, traurig, ernst. Und entschlossen, oh so entschlossen.

Taris glaubt so sehr an ihn, dass er kaum noch atmen kann. 

Der Vergessene PrinzWhere stories live. Discover now